Kein Papst der Reform#
Von
Roland Hinnen
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 194/2016
Das II. Vatikanische Konzil vertrat in der Reform die Ansicht, die Kirche ereigne sich primär in den Ortskirchen und diese müssten deshalb wieder zu ihrer ursprünglichen Eigenständigkeit (in Solidarität mit den andern) kommen. Papst Montini allerdings zwang ihm autoritär seine Universalmacht in die Akten: „Der Papst als höchster Hirte der Kirche kann seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken (omni tempore ad placitum) ausüben, wie es von seinem Amt her gefordert wird.“ Jederzeit - nach Gutdünken!
Im (selber nicht bedachten?) Gegensatz zu seinen sympathischen Aufforderungen, die Ortskirchen zu stärken, handelt Papst Bergoglio immer wieder päpstlich autoritär. Das Barmherzigkeitsjahr (mit dem angesichts des bevorstehenden Reformationsgedächtnisses skandalösen Ablass) verordnete er der Weltkirche, ohne die Bischöfe zu konsultieren. Sogar das neue Motu proprio (!) „Come una madre amarevole“ über die Absetzung nachlässiger Bischöfe weltweit erliess er ohne Rückfrage; die Ortskirche hat bei diesem Absetzungsvorgehen nichts mitzureden, nicht einmal durch das Domkapitel. Die päpstlichen Länderbesuche (Visitationen) in einzelnen Ländern laufen weiterhin à la Wojtyla ab: Demonstrationen der päpstlicher Universalherrschaft; ohne kollegiale Beratung über die Nöte und Anliegen der betreffenden Ortskirche; die Bischöfe als Attrappen und Kulisse päpstlicher Liturgie.
Seltsames Paradox der Nachkonzilszeit: Obwohl die Reformer an sich auf die Ortskirchen und die Dezentralisation setzen, geraten sie zunehmend wieder in die Fänge des Papalismus: Nach den Repressionen unter seinen Vorgängern erwarten auch sie vom Papst Bergoglio die entscheidenden Schübe. Aber ausser vollmundigen Worten und imponierenden Gesten kommt nichts, schon gar nicht strukturelle Änderungen. Nicht einmal den beschämenden, sie entmachtenden Amtseid der Bischöfe auf den Papst hat er abgeschafft; weiterhin bestimmen Nuntius, Kurie, Papst und anonyme Zuträger, welche Person die Ortskirchen als „ihren“ Bischof bekommen.
Bergoglios Aufrufe an die Bischöfe, ihm mutige Reformvorschläge zu unterbreiten, gehen ins Leere, denn Ratzinger hat in den 32 Jahren seiner römischen Herrschaft für stramm stromlinien-förmige Bischöfe gesorgt. Eigene Urteile, mutige Initiativen, selbstverantwortliche Entscheide sind von ihnen nicht zu erwarten, schon gar nicht im Dissens mit dem Vatikan. Die Bischöfe sind seit 1870, erst recht seit ihrem Amtseid auf den Papst, nicht mehr eigenverantwortliche Hirten ihrer Herde, sondern nur noch regionale Statthalter im päpstlichen Imperium.
Weder vom Papst noch von den Bischöfen ist also die bitter notwendige, weitsichtige, umfassende Reform (Bekehrung) der Kirche zu erwarten.
Aber von wem denn sonst? Aufgrund der konziliaren Theologie vom Volk Gottes müsste man erwarten: von den Gemeinden. Sie haben von Jesus her die Aufgabe, seine Botschaft unter den Generationen zu realisieren. Die Gemeinden müssten endlich mündig werden, volljährig, eigen-verantwortlich. Sie müssten aus eigener Einsicht und Taufvollmacht das Nötige vorkehren, dass an ihrem Ort das menschenfreundliche Reich Gottes unter die Zeitgenossen kommt. Aber die Erfahrung ist enttäuschend: Selbst wo eine Gemeinde im Sinn des Evangeliums stark geworden ist, serbelt sie dahin, sobald sie keinen Pfarrer mehr hat oder in eine XXL-Grossraumpfarrei hinein aufgelöst wird. Ohne einen engagierten Leiter hält offensichtlich auch eine Reformgemeinde nicht lange durch.
Also hängt die Reform im Grunde an den Pfarrern! Aber die werden bekanntlich bei uns immer seltener – und der armselige Nachwuchs ist erst recht konservativ, gegen eine Reform. Was also unternehmen? Die Gemeinden sind auf kleine Gruppen zusammengeschrumpft. Um ihr Weiterleben zu sichern, müsste ein verantwortungsbewusster Bischof aus ihrer Mitte eine geeignete Person für die Feier der Eucharistie ordinieren. Weigert er sich, wäre die Gruppe auf-grund von Jesu Auftrag berechtigt, trotzdem das Herrenmahl zu feiern. Von diesen kleinen, engagierten Christengruppen wird –wenigstens in unserer Region - die Zukunft der Kirche abhangen.
Übrigens: Die Grösse einer Christengemeinde misst sich wohl daran, ob jeder Teilnehmer vom einen Brot einen Teil bekommt. Die ersten Christengemeinde umfassten so viele, als sie im Raum eines Reichen Platz hatten. Auffällig ist derzeit das Schweigen der Fachtheologen: der Propheten. Waren sie noch am Konzil die eigentlichen Träger und Impulsgeber der Reform, scheinen sie sich – gewitzigt durch die Schicksale ihrer Kollegen - auf ihren Binnenbereich zurückgezogen zu haben. Kaum einer weist heute auf die pastoralen Notwendigkeiten hin und zeigt mögliche Lösungen auf. Eine Auseinandersetzung findet nicht mehr statt. Alles in allem: Die Papstkirche ist bei uns müde und langweilig geworden. Dabei erfordert die gesellschaftliche Entwicklung – noch weit mehr als vor 50 Jahren - dringlich eine gründliche, kompetente Auseinandersetzung.
Papst Franziskus müsste für die Weltkirche ein Jahr der Wahrhaftigkeit ausrufen, während dem jeder Amtsträger (vom Prediger über den Bischof bis zum Papst) und jeder Theologieprofessor im Gewissen verpflichtet wäre, nur noch zu äussern, was er auch tatsächlich glaubt – ohne die Angst, dafür bestraft zu werden. Das ergäbe einen gewaltigen Reformschub! Meine Beurteilung hat nur die deutschsprachigen Länder und ihre Seelsorgsnot im Auge. Ich weiss, dass es in andern Regionen anders aussieht, wo z.B. Priesterwerden noch sozialen Aufstieg bedeutet. Aber umso wichtiger ist, dass die kirchlichen Regionen selbständig werden und das bei ihnen Not-wendige selber an die Hand nehmen. Zu warten, bis auch die Entwicklungsländer in derselben Seelsorgsnot angelangt sind, um dann universalkirchliche Massnahmen anzugehen, verpasst den Kairos.
Ist im übrigen schon jemandem aufgefallen, dass in den 50 Jahren seit dem II. Vatikanischen Konzil keine einzige Person heiliggesprochen wurde, die in Wort und Tat die Reform verkörperte (bekommt Bischof Romero endlich eine Chance?) Padre Pio, Mutter Teresa von Kalkutta, Papst Wojtyla usf. vertreten im Grund die Mentalität des 19. Jahrhunderts. Allein schon aus den über 500 Unterzeichnern des Katakombenpaktes, aus den Reihen der Befreiungstheologie (Laien und Kleriker), aus den vielen abgestraften Reformtheologen ergäben sich genügend Vorbilder für eine gründliche Reform unserer Kirche.
Roland Hinnen (81j.) war nach einem gründlichen Theologiestudium Pfarrer einer Vorstadtge-meinde von Basel. Wegen Heirat (von Papst Wojtyla nie eine Antwort auf das Dispensgesuch) vollzeitliche Zweitausbildung zum Diplompsychologen/Berufs¬berater. Bis zur Pensionierung Berufsberater bei der Eidg. Invalidenversicherung.