Die Kirchenleitung müsste ihre Hausaufgaben machen#
Ein Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Glauben und Naturwissenschaft#
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 358/2021
Von
Manfred Hanglberger
Anm. des Hrsg.: Hanglberger bezieht sich hier auf ein von Christoph Brüwer mit Joanna Maria Otto[1] geführtes
Interview für katholisch.de.[2] Darin vertritt diese die Auffassung, dass viele Menschen heute grundsätzlich nichts
mehr mit dem Glauben anfangen könnten und sich deswegen auch nicht damit auseinandersetzten, sondern annähmen,
dass die Kirche sowieso rückschrittlich und gegen jeden wissenschaftlichen Fortschritt sei. Andersherum würden sich viele gläubige Menschen vermutlich nicht mit der Frage, wie Wissenschaft und Glaube im Alltag zusammengehen,
beschäftigen. Sie glauben in der Kirche und leben in einer fortschrittlichen Welt – und trennen die Bereiche
einfach in ihren Köpfen. Viele kennen die Texte der Päpste nicht, die die Missverständnisse um Galilei und Darwin
aufräumen, und wissen nichts von der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, wo Wissenschaftler im Dienst der
Kirche auf dem neuesten Stand der Forschung arbeiten. Wenn man nur bei den Vorwürfen gegen die Kirche stehenbleibt,
hat man ja nichts geändert. Ich finde, es braucht deshalb die Bereitschaft von beiden Seiten. Viele Gegner
bleiben gerne stehen und sagen: "Die Kirche ist rückschrittlich." Sie erkennen aber nicht an, dass die Kirche dabei
gerade einen Fortschritt macht. Gleichzeitig wäre es vonseiten der Kirche gut, mehr über Öffnung nachzudenken und
den modernen Menschen dort abzuholen, wo er steht. Auch da fehlt es an Informationen.
Vielleicht liegt dieses Defizit, das die Kirchenleitung zu verantworten hat, darin, dass das Problem „Glaube und Naturwissenschaft“ bereits von Kindern ab einem Alter von ca. neun Jahren wahrgenommen wird und dann bereits ab diesem Alter bei nicht wenigen der Glaube verloren geht, weil die Geschichten in der Schulbibel mit der Faszination im Schulkindalter für Urmenschen und Dinosauriern nicht zusammengehen. Zudem hat Bischof Oster von Passau am 10.07.2017 in „domradio.de“ von einer Umfrage unter 15- bis 35- Jährigen, die von der Kirche in den USA wegbleiben, berichtet, dass über 60 Prozent als Grund angaben, „weil sie ein wissenschaftlich-modernes Weltbild nicht mehr für vereinbar halten mit dem Glauben.“
Interessieren sich die Verantwortlichen in der Kirchenleitung zu wenig für die Glaubensentwicklung der Schulkinder und Jugendlichen, dass man es nicht für nötig hält, eine zeitgemäße Glaubenslehre zu diesem Thema zu formulieren, bzw. vom Vatikan einzufordern?
Ich möchte in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen, dass Jahrtausende lang die Naturerfahrung (in allen Religionen – auch im Christentum) eine der wichtigsten Quellen der Gotteserfahrung und der Spiritualität war (vgl. die Natur in den Psalmen und in den Gleichnissen Jesu). Aber seit dem Galileo-Konflikt wurde für viele das Wissen über die Natur zu einer Quelle des Zweifels und des Misstrauens gegenüber dem christlichen Glauben.
Und ich möchte in Erinnerung rufen, dass es noch bis ins 16. Jahrhundert keine Organisation in der Welt gab, die wie die Katholische Kirche die naturwissenschaftliche Forschung vorangetrieben hat - deshalb ist der Gregorianische Kalender von 1582 heute immer noch problemlos wissenschaftlich akzeptiert!
Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Kirche, den Menschen den Wert und Sinn der Welt und des Lebens zu erschließen. Sie kann aber nur eine zeitgemäße Welt- und Lebenssinn-Deutung anbieten, wenn sie den ständigen Dialog mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, der Psychologie und der Gesellschaftswissenschaften – also mit dem modernen Welt- und Menschenbild pflegt. Geschieht dies nicht, erscheinen viele Aussagen der Kirche für immer mehr Menschen als unzeitgemäß und überholt und damit als unglaubwürdig.
Es ist meine persönliche Überzeugung, dass der Kommunismus und der Nationalsozialismus nur deshalb eine solche geistige und dann auch gesellschaftliche Macht entfalten und solche schrecklichen Zerstörungen anrichten konnten, weil ein Jahrhunderte währendes Sinn-Defizit in den christlichen Kulturen entstanden war, weil es hier keine überzeugende Welt- und Geschichtsinterpretation mehr gab. Und die tiefere Ursache dafür liegt meines Erachtens im mangelnden Dialog der Kirche mit der „Welt“, also mit dem Entwicklungsprozess des Wissens über die Welt in allen ihren Bereichen.
Die Kirchenleitung müsste ihre Hausaufgaben machen:
So wie sie in der „Katholischen Soziallehre“ eine zeitgemäße, anerkannte, ja imponierende Glaubensbotschaft für die soziologische und ökologische Dimension der Wirklichkeit entwickelt hat und diese regelmäßig weiterentwickelt, so müsste sie auch für die naturwissenschaftlich und für die psychologisch erforschbaren Dimensionen der Wirklichkeit eine zeitgemäße Glaubenslehre formulieren und diese ständig weiterentwickeln. Denn ein inkarnatorisch verstandener Glaube braucht den ständigen Dialog mit der Welt und ihren verschiedenen Wirklichkeitsaspekten. Nur so gibt es ein zeitgemäßes Glaubensverständnis, nur so gibt es ein zeitgemäßes Verständnis vom Wirken Gottes in der Welt, nur so kann eine zeitgemäße Gebetssprache entwickelt werden.
Denn die Gotteskrise oder Glaubenskrise ist nach meiner Überzeugung darin begründet, dass die Kirche in den Bereichen naturwissenschaftliches Weltbild und Psychodynamik des Menschen seit Jahrhunderten kein zeitgemäßes Verständnis vom Wirken Gottes formuliert hat – und die Gebetssprache der Kirche deshalb zum großen Teil ein völlig überholtes Verständnis vom Wirken Gottes in der Welt widerspiegelt, in dem sich ein großer Teil auch der gläubigen Menschen unserer Zeit nicht mehr wieder finden kann.
Das ist der Grund meines Zornes, weil die Kirchenleitung ihre Hausaufgaben nicht macht.
Manfred Hanglberger, Teublitz (Diözese Regensburg), ist Pfarrer und Familientherapeut (i.R.)
Fußnoten#
[1] Joanna Maria Otto ist promovierte Neurobiologin, war dann einige Jahre dominikanische Ordensfrau und schreibt heute Bücher. Zuletzt erschien von ihr Galilei, Darwin, die Kirche und ich. Die Antwort auf die Frage, wie ich als Naturwissenschaftlerin an Gott glauben kann, Trier: Paulinus Verlag, 2020, 143 Seiten.[2] Siehe katholisch.de vom 7.12.2020, https://www.katholisch.de/artikel/27218-wie-glaube-und-naturwissenschaft-miteinander-vereint-werden-koennen