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Gedanken über die katastrophale Massenflucht aus der Kirche#

Von

P. Martin Frank Riederer

Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 205/2017


Immer wenn die Berichterstattung in Zeitung und Fernsehen der Pius-Bruderschaft Zeit und Aufmerksamkeit widmet, erfasst mich heiliger Zorn. Die Kirchenspaltung, die 1988 nach jahrzehntelangen Unverschämtheiten gegenüber den amtierenden Päpsten, den Entscheidungen des II. Vatikanischen Konzils und der Gesamtkirche in ihrem Werden und Wachsen, provoziert wurde, ist bereits abgeschwächt. Unglaublich viel an Zeit, an theologischer Diskussion, Aufmerksamkeit und Fernseh-Berichterstattung ist den Ewig-Gestrigen und Vertretern eines völlig unmöglichen Welt- und Herrschaftsbildes geschenkt worden. Dabei gehen die Schätzungen der Anhänger dieses sektiererischen Restes von 150 000 bis 600 000 weltweit. Also: Sagen wir gut eine halbe Millionen unverbesserlich totalitär-katholische Nostalgiker beschäftigen seit über 40 Jahren intensiv die Schaltstellen der Kirche. Das ist ein unverhältnismäßiges und verantwortungsloses Katastrophen-Management in der Kirche.

Doppelt so viele Kirchenaustritte in Österreich als Pius-Leute weltweit#

In den letzten 10 Jahren sind allein in Österreich mehr als 500.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Innerhalb der letzten 25 Jahre – also seit der Karfreitagsmeldung über Kardinal Groer – haben eine Million Menschen in Österreich der katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Auch die Strahlkraft von Papst Franziskus ändert am katastrophalen Imageverlust der Kirche hierzulande nichts. Zahllose junge Menschen verabschieden sich von ihrer Konfessions-Geschichte, wenn der Erlagschein der Kirchenbeitragsstelle per Post daher kommt. Allerlei Bemühungen der Finanzkammern in den Diözesen, Beibriefe von Bischöfen und Unterrichtseinheiten an weiterführenden Schulen zeigen kaum Wirkung. Jedes Jahr gehen Abertausende.

Die Sorge um deren Zukunft und deren Platz in der Kirche bleibt halbherzig. So aufgeregt, fundiert und zeitintensiv wie die Piusbruderschaft werden diese echten und totalen Verluste nicht abgehandelt – und das ärgert mich. Bei aller Schulung und Begleitung von Seiten der Zentrale: Tonfall und Umgangsweise auf den Kichenbeitragsstellen sind immer noch Schwankungen unterworfen und bleiben verbesserungswürdig.

Dafür, dass über 1000 Arbeitsplätze in der Innsbrucker Kirche aus Kirchenbeitragsgeldern gezahlt werden, ist das Bewusstsein und der Umgang mit den Finanziers, den Beitragszahlern, noch positiv erweiterbar. Demut ist angesagt - im wahrsten Sinne des Wortes! Was aber zuerst anzufragen ist, ist die Bewusstseinsbildung in den Hirnen und Herzen der Gläubigen. Es gelingt offenbar seit Jahrzehnten nicht, den Wert des Christ-Seins und damit den Wert und die Schönheit des Glaubens zu vermitteln. Eltern, Schule, Pfarren und Ausbildungsplatz sind anscheinend überfordert, wenig interessiert, zu wenig engagiert und haben zum Teil dieses Kapitel abgeschlossen.

Die viel beschworene Tradition stirbt#

Die Weitergabe von Glaube, Gebet und Kirchgang werden zur uninteressanten Nebensache und mehr und mehr überflüssig. Äußerlichkeiten werden dafür wichtig. Alles soll video- und fotogerecht ablaufen – schön halt. Zentrale Inhalte werden verworfen. Die Asche wird angebetet und die Glut ausgelöscht. Schlussendlich laufen verkleidete junge Schützen herum, die keine Ahnung von Religion haben, ihren Hass auf den Islam aber lauthals kundtun und eigentlich aus der Tradition eines bedeutenden Gelöbnisses dem Herz-Jesu gegenüber erwachsen und der Religionsfreiheit verpflichtet sind.

Prozessionen werden zu Brauchtum, Gebet zur Folklore, Messen zum Konsum-Gut, Pfarrer zu Beiwerk. Die tatsächliche Beziehung, die Beheimatung in der Kirche und die Auseinandersetzung mit Gott sind auf Erlagschein-Größe reduziert und immer häufiger in Richtung Kirchenaustritt gepolt. Dieses Problem trifft die Kirche hierzulande in einem Zustand der Überalterung und eigenartigen Uneinigkeit des Klerus. Da genügen sich die Priester oft in kirchenpolitischen Extrem-Positionen mit Verlautbarungen, Papieren und Aufrufen.

So mancher meint im Latein, in den Rezepten der Piusbruderschaft läge das Heil und am anderen Ende des Extremismus werden die Sakramente bagatellisiert, das Weihepriestertum ausgehöhlt und der selbstgebastelte Wortgottesdienst für jedermann in die Auslagenscheibe zur Debatte gelegt. Bischöfe sind einem ständigen Spagat zwischen den "Positionen" der Flügel ihrer Priester und Diakone ausgeliefert, werden zu Struktur-Managern wegen des chronischen Priestermangels und üben sich angesichts des rasanten Glaubensschwunds vielfach in ermutigenden Hirtenbriefen, die keiner der Betroffenen hört oder liest – weil kaum jemand noch zur Kirche geht. Ansonsten: Hilfloses Achselzucken.

Spaltungen und Extreme sind wenig hilfreich#

Null Interesse und eine gescheiterten Weitergabe des Glaubens an die junge Generation wird also mit einer als „Vielfalt“ etikettierten Orientierungslosigkeit und Selbstherrlichkeit bei Klerus und Kirchenbediensteten begegnet. Diese entfernen sich an der Basis durch herzinfarkt-verdächtiges Seelsorgeraum-Springen und Rennen von Gottesdienst zu Termin von jeglicher menschlichen Begegnung und die obere Kaste in den Ämtern, weil sie sich an grünen Tischen oft selbst genügen und phantasievoll die Bürokratie vorantreiben.

Der missionarische Auftrag Jesu wird so aber veruntreut und die vom letzten Konzil unterstrichene Verantwortungsfähigkeit der Getauften, deren aufbauende Begabungen (Charismen) zu wenig ins Bewusstsein gehoben und zu wenig gefördert und eingefordert. Während unsere muslimischen Mitbürger uns in Gebet und Einhaltung von Geboten und religiösen Vorschriften begegnen, verlieren wir nach und nach den Kontakt zu Gott, zur Kirche, zur Tradition und der ordnenden Kraft von Gebet und Glauben.

Und statt nach Mitteln und Wegen zu einem besseren Miteinander, zu einer Zukunft mit Kirche und Glaube zu suchen und beizutragen, verrennen wir uns in Hass und Bosheit, Angst und Kritik gegenüber den praktizierenden Muslimen. Dabei ist viel an Naivität, Ignoranz und Dummheit mit im Spiel. Am schlimmsten aber sind die verspielte Chance zum Christ-Sein und der oberflächliche Kirchenbeitrags-Katholizismus ohne Christus, ohne Wissen von Gott, ohne die tatsächliche Auseinandersetzung im Wissen.

Getauft-Sein heißt göttliche Würde und persönlicher Beitrag zur Kirche#

Es ist an der Zeit, dass wir Christen uns an die alttestamentlichen Propheten halten und den Missionsauftrag Christi neu begreifen. Das bedeutet, dass wir selber zu Propheten werden müssen, die sich ohne Wenn und Aber vom Stammtisch bis in die große Politik radikal für den Frieden einsetzen, die Glaube und Verantwortung leben und Gott und den Nächsten lieben. Christen müssen aus der Warteposition heraus kommen und bewusst Verantwortung übernehmen. Es ist keine Zeit mehr! Alle begabten Kräfte gehören mobilisiert, um in einem volksmissionarischen Kraftakt einen Weckruf in die Gesellschaft, eine gezielte Evangelisierungs-Kampagne loszutreten. Der Zustand der Kirche in unseren Breitengraden ist erbärmlich, die Wirklichkeit der Glaubenspraxis beängstigend, das Unwissen eine Katastrophe. Das nachhaltig zu ändern, schaffen die Handvoll Priester und die Apparatur der Angestellten nie.

Hier braucht es die Phantasie, das Engagement und die Konsequenz aller Gläubigen – Gebet und Gottesdienst, Hilfsbereitschaft, Hirn und Herz inclusive... Hier braucht es auch die Erfahrungen, Gedanken und Taten der Ausgetretenen, die zwar per Unterschrift ihre finanzielle Verpflichtung loswerden, ihre Würde und ihren Wert als Getaufte und Gefirmte aber für immer behalten! Darum fehlen sie - nicht wegen des abgelehnten Erlagscheins.

P. Martin Frank Riederer OPraem ist zurzeit Seelsorger im Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern in Zams.


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