Pluralismus, Religionsfreiheit und die Rolle der Kirche#
Von
Heribert Franz Köck
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 303/2019
Wer die Strukturen der modernen Gesellschaft, ihres Staates und ihrer überstaatlichen Gemeinschaften verstehen will, der nimmt als Ausgangspunkt zweckmäßiger Weise den Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union. Dort heißt es:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
Das ist keine Aufzählung zufällig zusammengetragener, von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen hineinreklamierter Elemente, sodass sich dort alles wiederfinden würde, was dem Einen oder Anderen „gut und teuer“ erscheint. Es handelt sich vielmehr um eine Zusammenstellung all jener Werte, ohne deren Respektierung nach Auffassung der in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten ein gedeihliches innerstaatliches und zwischenstaatliches Zusammenleben nicht möglich ist.
Der zentrale Gedanken ist dabei der Schutz der menschlichen Freiheit. Freiheit ist für den Menschen die Voraussetzung dafür, dass er den Entwurf seines Lebens nach seinen eigenen Vorstellungen selbst gestalten und diese Vorstellungen auch umsetzen kann. Diese Freiheit darf durch nichts anderes beschränkt sein als durch die natürlichen Schranken, also die unausweichlichen Umstände der Existenz des Menschen. Und die Ausübung dieser Freiheit findet keine andere Grenze als die entsprechende Freiheit der Anderen. Daher ist es die Aufgabe der politischen Organisationsform der Gesellschaft – Staat und überstaatliche Gemeinschaft –, die Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen unter einem allgemeinen Gesetz vereinbar zu machen.
Dass die Begrenzung der menschlichen Freiheit nur im Sinne dieses Grundsatzes gerechtfertigt werden kann, ergibt sich daraus, dass es in der Gesellschaft erfahrungsgemäß unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie die Gesellschaft und ihr politisches Pendant, insbesondere also der Staat, organisiert und ihre Strukturen näher ausgestaltet sein sollen. Es ist in diesem Zusammenhang das Recht der Einzelnen und gesellschaftlicher Gruppen, auf eine Ausgestaltung nach den eigenen Vorstellungen zu streben und diese im Recht – sei es in der Verfassung, sei es im Gesetzesrecht und seiner allgemeinen oder konkreten Umsetzung – zur Geltung zu bringen. Eine solche politische Tätigkeit ist ein Ausfluss der menschlichen Freiheit in der Form der Sozialgestaltung (i.w.S., welche auch die politische und wirtschaftliche Gestaltung einschließt).
Dabei darf aber niemals außer Acht gelassen werden, dass so wie die Freiheit des Einen auch die Ausübung politischen Freiheit dort endet, wo die Freiheit Anderer beginnt und derart begrenzt ist. Die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes stellt ein Problem dar, in dessen Zusammenhang eine ganze Reihe von Umständen zu berücksichtigen ist. Es tritt naturgemäß nur in einer pluralistischen Gesellschaft auf, also in einer Gesellschaft, in der es mehr als eine Meinung zur rechten Art der Sozialgestaltung gibt, wobei jede dieser Meinungen auf jeweils einer bestimmte Weltsicht (einer bestimmten „Weltanschauung“ – und sei es auch dem Agnostizismus – ) basiert. In einer uniformen Gesellschaft, wo alle dieselbe Vorstellung von der rechten Ausgestaltung der Gesellschaft und daher von den dafür notwendigen politischen Maßnahmen haben, besteht dieses Problem nicht.
Nun ist es eine Erfahrungstatsache, dass die heutige Gesellschaft pluralistisch ist, in ihr also unterschiedliche Weltsichten existieren. Nur ein totalitäres Regime könnte das ignorieren und daher eine bestimmte davon zur Grundlage der Gesellschaft machen, die anderen aber verbieten. Solches ist im Laufe der Geschichte lange Zeit hindurch der Fall gewesen, weil man nicht verstehen konnte, warum sich jemand der herrschenden, als richtig angesehenen Auffassung verschließen könne. Erst seit der europäischen Aufklärung, also seit dem 17. und 18. Jahrhundert, hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass eine solche Reglementierung der Gesellschaft mit der Freiheit des Einzelnen unvereinbar ist, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Diese Freiheit wird von ihren Verfechtern seit damals als „natürliche“ Freiheit angesehen, das heißt: als eine dem Einzelnen durch die Natur und deren Schöpfer, also durch Gott, mit der Geburt verliehene und unverlierbare.
Dieser Auffassung standen und stehen verschiedene Meinungen entgegen, die alle darauf hinauslaufen, dass nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern die Richtigkeit der Weltanschauung der entscheidende Punkt sei, auf den es bei der Ausgestaltung der Gesellschaft und ihrer politischen Organisationsform ankäme. Das dafür oft gebrauchte Schlagwort lautet, dass der Irrtum „nicht dieselbe Existenzberechtigung habe wie die Wahrheit“ und dass er daher zugunsten der letzteren eingeschränkt werden dürfe. Dies war auch die offizielle Linie der Katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanums. Sie wurde noch 1960 vom damaligen Präfekten der Kongregation des Heiligen Offiziums, d.h. der Inquisition – nach dem Konzil in Glaubenskongregation umbenannt –, Kardinal Ottaviani in seinem Lehrbuch des Öffentlichen Kirchenrechts[1] vertreten. Sie hat in verschiedenen Konkordaten mit sog. katholischen Staaten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Niederschlag gefunden. Seit den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. feiert sie im Kampf gegen die „Diktatur des Relativismus“ und der Propagierung einer „Neu-Evangelisierung Europas“ fröhliche Urständ.[2] Man will den Staat für die Durchsetzung des von der Kirche interpretierten Naturrechts in allen Lebensbereichen in Dienst nehmen. Neben der Katholischen Kirche stellten sich auch alle totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts auf diesen Standpunkt, den sie jeweils mit der (alleinigen) Richtigkeit ihrer Ideologie begründeten, die sie auf streng wissenschaftlicher Basis erarbeitet haben wollten. Dazu zählte der Marxismus- Leninismus in Sowjetrussland (und später in anderen kommunistischen Staaten) ebenso wie der von der Machtstaatstheorie des Deutschen Idealismus beeinflusste Faschismus in Italien und der von Nietzsches Übermensch-Ideen samt Umwertung aller Werte beeinflusste Nationalsozialismus mit seinen Theorien von einer Herrenrasse, aber auch von unwertem Leben, in Deutschland.
Der Auffassung, dass der Irrtum nicht das gleiche Recht auf Verbreitung habe wie die Wahrheit, liegt – wenn er für (insbesondere) den Staat und sein Recht zur politischen Leitlinie werden soll – eine doppelte Verkennung des Wesentlichen zugrunde.
Erstens kommt es dem Staat nicht zu, darüber zu entscheiden, was als Wahrheit und was als Irrtum anzusehen sei. Daher fehlt ihm jede objektive sachliche Grundlage für einen Kampf gegen einen solchen „Irrtum“. Zweites richtet sich ein mit staatlichen Machtmitteln „gegen den Irrtum“ geführter Kampf nur indirekt gegen den Irrtum, direkt aber gegen jene Menschen, die ihm anhangen. Nun ist es aber – wie schon dargelegt – dem Staat der pluralistischen Gesellschaft verwehrt, Menschen eine andere Meinung gewaltsam aufzuerlegen. Diese weltanschauliche Neutralität des Staates schützt daher gar nicht den Irrtum, sonder lediglich den Irrenden, diesen aber dafür absolut, solange er nicht gegen den pluralistischen Grundkonsens (Frieden/Sicherheit, Freiheit, Wohlfahrt) verstößt.[3]
Diese Folge des Pluralismus ist – und das sollten insbesondere jene einsehen, die sich zur Rechtfertigung des „Kampfes gegen den Irrtum“ auf ein göttliches Recht berufen, also Fundamentalisten jeglicher Religion – gerade auch vom göttlichen Recht gedeckt. Denn da es schon von Naturrechts wegen das Menschenrecht auf Glaubens- und Gewissens-, aber auch auf Meinungsfreiheit gibt, wäre jeder Kampf gegen den (von einer bestimmten weltanschaulichen Position aus als solcher qualifizierten) Irrtum ein Verstoß gegen das natürliche göttliche Recht. Da aber nichts, was von Natur aus erlaubt ist, vom Evangelium verboten,[4] und umgekehrt nichts, was von Natur aus verboten ist, vom Evangelium gefordert sein kann, kann es keine göttliche Forderung nach einem Kampf gegen den Irrtum geben, der in einer Repression gegen den oder die Vertreter des angeblichen Irrtums besteht. Um diesem zwingenden Schluss auszuweichen, richtet sich der Kampf der Traditionalisten in der Katholischen Kirche heute mehr und mehr auch gegen die Idee natürlicher Menschenrechte, insbesondere gegen die Religionsfreiheit, deren Anerkennung ihrer Meinung nach der größte Fehler des Zweiten Vatikanums war.[5] Und für die islamischen Staaten gelten die Menschenrechte überhaupt nur mit der Einschränkung: soweit diese mit dem Islam vereinbar seien.[6]
Bei einer Staatengruppe, in deren Gesellschaft sich die Idee des Pluralismus noch gar nicht durchgesetzt hat und die daher auf einer niedrigeren Stufe des gesellschaftlichen Bewusstseins steht, stellt der religiöse Fundamentalismus ein bedauerliches Hindernis für die gesellschaftliche Entwicklung zu einer höheren Stufe des Bewusstseins, wie sie in der modernen Gesellschaft und ihrem Staat verwirklicht ist, dar. Da er überdies in seiner Umsetzung gegen die von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Menschenrechte verstößt, müsste ihm schon von dieser Gemeinschaft der Kampf angesagt werden.
Der Fundamentalismus hat aber – wenn man ihn gewähre lässt – auch auf die pluralistische Gesellschaft und ihre durch Konsens geschaffene Grundlage eine zersetzende Wirkung. Die entsprechenden politischen Verhaltensweisen stellen nicht weniger als einen Angriff auf die Grundlagen pluralistischer Gemeinwesen dar. Da aber allein diese das Gemeinwohl – also das Leben Aller in Friede, Freiheit und Wohlfahrt – sichern können, muss dieser Grundlage widersprechenden Forderungen und den Versuchen zu ihrer Umsetzung mit allen notwendigen, dem Staat der pluralistischen Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mitteln entgegengetreten werden.
Was das in concreto bedeutet, soll in einer künftigen Nummer der >Gedanken zu Glaube und Zeit< mit dem Titel >Pluralismus, Religionsfreiheit und die Rolle des Staates< näher ausgeführt werden.
Fußnoten#
[1] Ius Publicum Ecclesiasticum, 2 Bde., 2. Aufl. Rom/Vatikan; Libreria Editrice Vaticana, 1960.[2] Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag „Pluralismus vs. Relativismus“ in der Nr. 300 der Gedanken zu Glaube und Zeit.
[3] Es war diese Einsicht, die auf dem Zweiten Vatikanum zur Annahme des Dekrets über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae (1965) geführt hat,
[4] So schon Francisco de Vitoria, der Gründer und erstes Haupt der Schule von Salamanca, die für die Neuzeit in der Katholischen Kirche moraltheologisch lange Zeit wegweisend war.
[5] Vgl. nochmals den Beitrag „Pluralismus vs. Relativismus“ in der Nr. 300 der Gedanken zu Glaube und Zeit.
[6] Die von der Organisation der Islamischen Konferenz 1990 angenommene Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, welche als Leitlinie der z. Zt. 57 islamischen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Menschenrechte gelten soll, legt in ihren abschließenden Artikeln 24 und 25 die religiös legitimierte islamische Gesetzgebung, die Scharia, als einzige Grundlage zur Interpretation der Menschenrechte fest. Sie ist daher keine Umsetzung der von der UNGeneralversammlung 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für den islamischen Bereich, sondern deren entscheidende Relativierung.