Ein Skandal, der nicht übersehen werden darf!#
Von
Herbert Kohlmaier
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit, Nr. 47/2012
Bekanntlich lehnt die Piusbruderschaft ganz wichtige Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils ab, was ihrer Wiederaufnahme in die Kirche (noch) entgegensteht. Insbesondere geht es um zwei Dokumente. In „Nostra Aetate“ wurde das Verhältnis zu den anderen Religionen neu bestimmt, insbesondere zum Judentum als von Gott gestiftete Religion. Durch „Dignitatis Humanae“ erlangte die Religionsfreiheit ihre Anerkennung.
Vom deutschen Kurienkardinal Walter Brandmüller erging nun ein Signal, das offenbar die vom Papst unbedingt gewünschte Heimholung der abgespaltenen Konservativen durch „Öffnen einer Tür für einen fruchtbaren Dialog mit den Lefebvrianern“ ermöglichen soll. Man könne ja darüber reden, ob die beiden genanten Texte überhaupt einen „lehrmäßig bindenden Inhalt“ hätten. Sie seien als Ausdruck des Lehramtes „natürlich ernst zu nehmen, ohne die ganze Kirche binden zu wollen“.
Damit wird nicht weniger getan, als an der Autorität eines Konzils gerüttelt. Hier ist zunächst zu bedenken, dass nach kirchlicher Auffassung diese Versammlung in der Nachfolge des Apostelkollegiums handelt. Der Katechismus stellt fest, dass der Körperschaft der Bischöfe die Unfehlbarkeit der Kirche innewohne, wenn diese das oberste Lehramt zusammen mit dem Nachfolger des Petrus ausübten.
Nun ist es tatsächlich so, dass die Dokumente des Vatikanums hinsichtlich ihrer „Wichtigkeit“ unterschiedlichen Charakter haben. Auf die Verkündung eines Dogmas mit dem höchsten Verbindlichkeitsgrad wurde verzichtet, sehr wohl aber ergingen „dogmatische Konstitutionen“. Ferner wurden Dekrete und „nur einfache“ Erklärungen mit Zustimmung des Papstes verkündet; die Texte, um die es hier geht, gehören zu der letztgenannten Kategorie. Dies aber ändert nichts daran, dass mit ihnen die Lehre der Kirche in Bezug auf ihr Selbstverständnis von höchster Autorität festgelegt wurde!
Ganz allgemein ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass in letzter Zeit eine zunehmende und höchst bedenkliche Unschärfe betreffend den Verbindlichkeitsgrad kirchenamtlicher Erklärungen entstanden ist. Sie wird vor allem davon gekennzeichnet, dass das Kollegialprinzip als Urelement der Kirche seit ihrem Beginn nun noch mehr zurückgedrängt wird. Es entsteht der Eindruck, der Papst könne anstelle kollegialer Beschlüsse oder gar über solche hinweg allein festlegen, was in der Kirche zu gelten habe.
Kollegialität wird systematisch zurückgedrängt#
Ein typisches Beispiel dafür ist das Apostolische Schreiben Johannes Pauls II. „Ordinatio Sacerdotalis“ (1994), mit dem die Weihe von Frauen „endgültig“ bzw. „definitiv“ ausgeschlossen wird. Immer wieder wird von Seiten der Hierarchie darauf hingewiesen, dass es daher nicht einmal zulässig sei, darüber auch nur zu diskutieren! Damit zeigen die Aussagen Brandmüllers die absurde Situation, dass Entscheidungen des Konzils sehr wohl hinsichtlich ihrer „Verbindlichkeit“ zur Diskussion gestellt werden können, nicht aber vom Papst allein Getroffene.
Besonders beunruhigend ist das deshalb, weil es sich bei den in Rede stehenden Konzilstexten um solche handelt, die eine deutliche Korrektur früherer kirchlicher Haltungen herbeiführten. Was übrigens geschah, ohne dass dadurch die kirchliche Autorität an sich gelitten hätte – sie wurde im Gegenteil damals durch dieses Eingehen auf den Fortschritt gefestigt. Das sollte eigentlich zu weiteren Anpassungen ermutigen!
So verstärkt sich abermals der Eindruck eines ungeliebten Konzils, das man nicht ernst nimmt. Dass von ihm gewonnene richtungweisenden Erkenntnisse dem Ungeist der Piusbrüderschaft geopfert werden könnten, muss größte Besorgnis auslösen. Dort hört man bereits triumphierende Töne. So stellte der Generalobere Fellay jüngst fest, man könne zwischen den Zeilen lesen, dass offizielle Autoritäten der Kirche wünschten, „gewisse Irrtümer“ des Konzils richtigzustellen. Die Linie der Kirche habe sich also geändert, nicht aber die der Bruderschaft!
Für den kritischen Beobachter stellt sich zunehmend die Frage, was den Papst veranlasst, die Versöhnung mit einer erzreaktionären Gruppe von Abweichlern für so wichtig zu halten, dass man die Beschlüsse eines Konzils, die von seinen Vorgängern gebilligt wurden, relativiert und damit aus dem gesicherten Bestand des Glaubensgutes verdrängt. Er stellt damit Grundelemente der Kirche und ihrer Ordnung in Frage!
Was geht eigentlich im Vatikan vor sich?#
Umgekehrt haben jene Kräfte, die weitere Fortschritte einmahnen und eine breite Mehrheit des Kirchenvolkes hinter sich wissen, für den Papst keinerlei Relevanz. Man sieht dem schmerzlichen Aderlass durch Massenaustritte eigentlich untätig zu. Er ist nicht Folge eines so genannten allgemeinen „Glaubensverlustes“, sondern letztlich darauf zurückzuführen, dass die Menschen den Eindruck haben, bei der Kirche sei vieles nicht mehr in Ordnung und vernünftig nicht nachvollziehbar.
Über die Ursachen dieses Empfindens muss sehr ernsthaft nachgedacht werden. Keine Überlegung sollte dabei ausgeschlossen werden, so sehr sie auch als unsinnig zurückgewiesen werden könnte. Immerhin entsteht der beklemmende Eindruck eines zunehmend irrationalen Handelns. Ich habe mir schon einmal Gedanken darüber gemacht, ob das heutige Leitungssystem nicht pathogen wirkt und zur Einbuße intellektueller Fähigkeiten führen kann (Conturen Nr. 2 / 2011, „Kirchenpathologie und Heilung?“).
Ins Kalkül zu ziehen ist aber auch die Möglichkeit, dass organisierte Kräfte am Werk sind, die der Kirche konsequent einen Kurs der „Entweltlichung“ aufzwingen. Also den Weg zu einer vermeintlich elitären Kleingruppe weit abseits einer „Volkskirche“. Das Kirchenbild der Johannesoffenbarung scheint da in den Vordergrund zu treten. Es geht um die Auserwählten, die gerechtfertigt werden. Die in der Welt draußen dominierenden bösen Kräfte erhalten hingegen am jüngsten Tag ihre fürchterliche Strafe.
Man muss gegenüber Verschwörungstheorien immer sehr vorsichtig sein, aber es drängt sich als mögliche Erklärung doch auf: Gruppierungen wie dem Opus Dei und anderen Gleichgesinnten könnte es gelungen sein, die Kirchenleitung in Geiselhaft zu nehmen. Immerhin ist es anders schwer zu erklären, dass seit Jahren alle korrigierenden Kräfte systematisch ausgeschaltet werden. Methoden zeigen sich, die an weltliche Gewaltregime erinnern. Wenn der Chef der Vatikanbank Exekutivkräfte zunächst für gedungene Mörder hielt, mag das kurios sein, lässt aber tief blicken. Immerhin gab es ja schon Derartiges in diesem Milieu.
Sollte es nicht zu denken geben, dass der Papst abweichend von der Zusammensetzung der Weltkirche bevorzugt italienische Kardinäle ernennt, von denen er womöglich eine geringere Resistenz gegen dubiose Kartelle annimmt? Das Gesamtbild wird immer beunruhigender. Wenn ein Bischof Morris entfernt wurde, nur weil er sich über die Möglichkeit von Reformen äußerte, kann man getrost von Gesinnungsterror sprechen. Dieser veranlasste seine Kollegen dann auch noch, den Willkürakt zu loben.
Die Bischöfe müssten eigentlich weltweit aufschreien, wenn im Vatikan gemeint wird, man brauche dem nicht allzu viel Gewicht beimessen, was ihre Vorgänger in einer feierlichen Versammlung der Weltkirche für gut und richtig befanden! Doch man hat sie dem zentralistischen Machtkonzept entsprechend längst zu gefügigen Befehlsempfängern degradiert. So dängt sich der Vergleich mit der Rücksichtslosigkeit von Diktaturen auf, die alles unterdrücken, was von der vorgegebenen Linie abweicht.
Sollte wirklich der Preis für die Versöhnung mit den Piusbrüdern eine bedenkenlose Herabminderung des Konzils sein, wäre das ein schrecklicher Fehler. Er würde einen weiteren Glaubwürdigkeitsverlust für die Kirche bedeuten. Schon allein die Tatsache, dass man über diese Möglichkeit nachdenkt, ist ein Skandal, der keineswegs übersehen werden darf!