Ein zweites "Weihnachtswunder"#
Von
Hans Stetter
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 204/2017
Wie ich an anderen Stellen ausführlich dargelegt habe, sind Ort, Zeitpunkt und Umstände des physischen Beginns des Menschen Jesus, des "Christus", nicht bekannt. Der Bericht von Matthäus will ja nur eine Herkunft aus dem Stamm Davids konstruieren (daher die Betonung von Josef), und die zwei Generationen nach dem Ereignis, also nach unzähligen mündlichen Weitergaben im vorderen Orient, entstandene orientalische Märchenerzählung von Lukas passt in sich und mit Matthäus nicht zusammen.
Zunächst scheint auch die Frage nach Geburt, Kindheit und frühem Erwachsenenalter Jesu in den entstehenden christlichen Gemeinden nicht von Interesse gewesen zu sein; erst im 4. Jhdt. beginnt man die Geburt Jesu festlich und liturgisch zu begehen. Für die Wahl der Winterson-nenwende als Zeitpunkt der Feier ist (nach übereinstimmender Meinung) die Verdrängung eines heidnischen Festes des Sonnengottes für die zur römischen Staatsreligion ernannte christliche Kirche ausschlaggebend gewesen. Inhaltlich ist offenbar von Anfang an die Lukanische Erzäh-lung die Basis für Liturgie und die sich lokal entwickelnden Gebräuche gewesen, sie ist ja so überaus zu Herzen gehend.
Das wirkliche Weihnachtswunder besteht ja doch unabhängig von jeder Kindheitsgeschichte Jesu in dem Umstand, dass Gott, offenbar zu Hintanhaltung weiterer Entgleisungen in der Entwick-lung des Homo Sapiens auf dem Planetchen Erde, in direkter Weise seine Vorstellungen vom beabsichtigten "Reich Gottes auf Erden" durch einen in seinem Sinn ideal handelnden Menschen veranschaulichen wollte. Ob wir dabei den Menschen Jesus als unmittelbare irdische Erscheinung des (überhaupt allgegenwärtigen) transzendenten Gott-Geistes oder als einen total von diesem erfüllten Menschen ansehen, spielt dabei keine Rolle. Die Messias-Tätigkeit Jesu beginnt ja nach übereinstimmendem Bericht der Evangelien mit der Taufe Jesu, bei der er vom "Heiligen Geist" erfüllt wird.
Inzwischen ist aber ein zweites "Weihnachtswunder" geschehen: Übereinstimmend trotz der lokal sich recht unterschiedlich entwickelnden Gebräuche im Zusammenhang mit der Feier der Geburt Christi ist das gegenseitige Schenken immer mehr ein zweiter Schwerpunkt des Festes geworden. Dadurch bekam das Fest einen wirtschaftlichen Bezug, der seiner Natur entsprechend immer stärker in den Vordergrund trat und eine Verbreitung des Festes auch in Gesellschaften ohne Bezug zum Christentum möglich machte. Heute wird Weihnachten auf dem ganzen Erdball gefeiert, völlig unabhängig von seinem ursprünglichen Anlass und der lokalen Religion. Fast überall werden irgendwelche Aspekte der europäischen Bräuche, von der Krippe mit ihrem Hofstaat bis zum (eigens importierten) Tannenbaum übernommen, wobei es mir unklar ist, was sich die Menschen dabei denken. Aber es kommt ja in diesen Ländern ausschließlich nur mehr auf den Feiertag und das wirtschaftlich so einträgliche Beschenken an.
Wir haben einmal die Woche vor Weihnachten in Chiang Mei im Norden von Thailand erlebt. Die riesige Hotelhalle wurde von einer großen Krippendarstellung geprägt, vor der auf einem Tisch ein Berg von farbig eingewickelten Paketen unterschiedlicher Größe lag. Zum Nachmit-tags-Tee brachte ein Bläserquartett europäische Weihnachtschoräle würdevoll dar, und an den oben in der Halle sichtbaren Aufzügen schwebten lebensgroße Engel mit den Kabinen auf und nieder! Die Kaufhäuser dröhnten von europäischen Weihnachtliedern, schlimmer als ich es je hierzulande erlebt habe!
Ein Land hat es sogar fertiggebracht, das Kaufen und Verteilen von Geschenken mit einer ganz anders verfremdeten Märchenerzählung zu verbinden, in der das Jesuskind gar nicht mehr vor-kommt, obwohl das Fest auch am 24./25. Dezember begangen wird: Es sind dies die USA, wo die Geschenke bekanntlich vom Weihnachtsmann mit dem von vier Rentieren gezogenen Schlitten gebracht werden! So kann trotz der Rücksichtnahme auf individuelle religiöse Ansichten jedenfalls der wirtschaftliche Aspekt des Festes voll zu Geltung kommen!
Dass es ein eigentlich rein christliches Fest gibt, das auf dem ganzen Erdball simultan begangen wird (mit Ausnahme der orthodoxen Variante des Christentums), das halte ich für ein echtes "Weihnachtswunder"!
Em. Univ. Prof Dr. Hans Jörg Stetter ist Mathematiker und Mitglied des Vorstandes der Laieninitiative.