PAUL EHRLICH#
Am 14. Juli 1910 sorgte die Schlagzeile der Villacher Zeitung für Aufsehen „Prof. Paul Ehrlich über sein Syphilis-Heilmittel“.
Die aufsehenerregende Nachricht, dass es Geheimrat Prof. Dr. Paul Ehrlich in Frankfurt gelungen sei, ein Heilmittel zu finden, mit dem es möglich ist die Syphilis, jene furchtbare Seuche, mit Erfolg zu bekämpfen, unter der im Laufe der letzten Jahrhunderte, insbesondere aber während des letzten Säkulum, fast alle Völker der Erde schwer zu leiden hatten, scheint sich zum Heile der Menschheit zu bewahrheiten. Der edle Forscher freilich tritt nur erst zaghaft mit seiner Entdeckung vor die Öffentlichkeit, er unterbreitet sein Mittel der Welt mit der Bitte, sie möge es vorerst eingehend prüfen und ihm erst dann den Siegespreis zuerkennen, wenn sein Präparat nach jahrelanger Beobachtung, auch das hält, was es heute verspricht. Doch, so weit sich die Resultate übersehen lassen, wird das gelbliche Pulver aus der „Arsen Gruppe“ sicher ein Wohltäter der Menschheit werden, hat es doch jetzt schon vielen Kranken Besserung gebracht, neue Lebenszuversicht gegeben und wird daher, wie zu hoffen, nach gründlicher Erprobung sehr geeignet sein, die von der „Lues“ Befallenen zur vollen Genesung zu führen.
Was Prof. Ehrlich selbst über sein Mittel sagt, darüber gibt uns ein Redakteur der „Frankfurter Zeitung“ Auskunft, der kürzlich im Auftrag seines Blattes den Gelehrten besuchte und ihn bat, sich über seine Entdeckung zu äußern.
„Noch ist ein abschließendes Urteil über das Mittel nicht möglich, wenngleich wahrscheinlich“ erklärte Prof. Ehrlich „Die längsten Erfahrungen reichen vier bis fünf Monate zurück. Aber was will das besagen, bei einer Krankheit wie der Syphilis? Eine große Reihe von Beobachtungen sind freilich festgelegt, erhärtet, von vielen Seiten bestätigt und werden wohl dauernde Geltung haben, Die Wirkung tritt weit schneller ein, als bei der bisherigen Behandlungsweise, z. B., mit Quecksilber. Die Spirochäten – die Erreger der Syphilis – verschwinden bei Tier- wie bei Menschensyphilis in ungemein vielen Fällen schon nach 24 bis 48 Stunden aus Primär Effekten und Kondylomen, in denen sie reichlich vorhanden waren. Eine auffallend rasche Wirkung ist auch bei inveterierten Fällen erzielt worden., zumal solchen, die durch Quecksilber nicht mehr günstig beeinflusst worden waren. Über die Dauer der heilenden Wirkung ist noch kein abschließendes Urteil möglich. Nach den bisherigen Ergebnissen sind in etwa acht bis zehn Prozent der behandelten Fälle Rezidive aufgetreten, so z. B., hat Oberarzt Dr. Schreiber in Magdeburg unter 128 Fällen 10 Rezidive gehabt. Die Erfahrungen in anderen Orten liegen ähnlich, doch ist zu beachten, dass noch nicht genügende Erfahrungen über die erforschten Stärke der Einspritzung bei den verschieden gearteten Individuen vorliegen. So ist es z. B., leicht möglich, dass in manchen Fällen die eingespritzte Dosis nicht stark genug war, so dass ein nicht unerheblicher Rest von Parasiten verblieb, dass also die vollkommene Sterilisierung des Körpers nicht erreicht wurde. Es passt eben auch da eines nicht für alle. Vor allem muss die Stärke der Dosierung noch ausprobiert werden. Wie verschieden geartete Konstitutionen in verschiedener Weise auf Alkohol, Morphium usw., reagieren, so auch im Bezug auf das Präparat, das zur Vermeidung des langen chemischen Namens einfach als „Präparat 606“ bezeichnet wurde. Die Frage der Dauerwirkung ist aber auch aus einem anderen Grund nicht zu beantworten. Es hat sich bisher nur um Krankenhausbehandlung gehandelt, wo doch häufig ein stark fluktuierendes Material in Betracht kommt, das nicht daran denkt, sich den Ärzten, nachdem es als geheilt entlassen ist, wieder vorzustellen. Anderseits sind bei der bisherigen Behandlung Fälle bekannt, in denen die Krankheit bis zu Zeiträumen von acht Jahren völlig verschwunden war oder doch verschwunden schien, und wo sich doch ohne äußere Veranlassung nach so langer Zeit wieder Lues-Erscheinungen zeigten. Aus diesen Gründen schon lässt sich über die Wirkung der neuen Behandlungsmethode in Bezug auf Dauerheilung jetzt noch kein unbedingt sicheres Urteil fällen.
Dass der Erfolg des neuen Mittels bei den verschiedenen Zeitformen der Syphilis verschieden sein würde, war voraus zu sehen. Die parasyphilitischen Erscheinungen bieten die größten Schwierigkeiten. Hier handelt es sich ohnehin in der Regel um ältere Personen, bei denen die Zerstörungen der furchtbaren Krankheit nicht mehr zum Stillstand zu bringen sind. Die hereditäre Lues ist schon leichter zu bekämpfen. So wurden bei sehr Lebens schwachen Kindern, die schon aufgegeben werden konnten, auffallende Besserungen erzielt. Durchaus befriedigend waren die Erfolge bei primärer, sekundärer und tertiärer Syphilis.
Die Injektion scheint für den Patienten keine ganz angenehme Sache zu sein, wenigstens dann, wenn - wie in der weitaus größten Mehrzahl aller Fälle – die intramuskuläre Injektion, die sogenannte Depotbehandlung, im Gegensatz zur intravenösen Injektion, zur Anwendung kommt. Sie erfolgt in den Muskel und ist äußerst schmerzhaft, auch von lokalen Entzündungen begleitet, erscheint aber deshalb weit wirksamer, weil die Arsen-Ausscheidung nur langsam erfolgt, gleichsam als ein Depot des Präparates im Körper vorhanden ist. Die intravenöse Injektion, direkt in die Vene, also in die Blutbahn, gelangt nur bei Rekurrens zur Anwendung, wo die Spirillen im Blut vorhanden sind. Diese Injektion ist nicht schmerzhaft.
Die viel befürchteten Nebenwirkungen auf andere Organe (Augen, Leber, Nieren usw.) sind bisher nicht beobachtet worden. Wohl stellte sich hier und da starkes Herzklopfen ein. Vielleicht handelt es sich um eine Erregung durch Angstgefühle – wie sie sich z. B., vor oder bei Operationen einstellt. Ob das Herzklopfen in einzelnen Fällen direkt auf eine Einwirkung des Präparates zurück zu führen ist, wird die Zukunft lehren. Immerhin sollte die Anwendung des Mittels bei Herzkranken bis auf weiteres vermieden werden.
Einen wichtigen Gradmesser für die Wirksamkeit von „Ehrlich 606“ bietet die Wassermann Blutreaktion. Die bis jetzt vorgenommenen Untersuchungen hatten im allgemeinen gute, also negative, Ergebnisse. Die ungünstigsten Resultate hatte Professor Neisser in Breslau, der bei etwa zehn Prozent der behandelten Fälle keinen Erfolg konstatieren konnte. Teilweise wurden aber auch weit günstigere Erfolge bis 90 Prozent, erzielt, z. B., in Berlin. Diese Verschiedenheit dürfte vielleicht daraus zu erklären sein, dass ähnlich wie bei Schlafkrankheit eine regionäre Verschiedenheit in den Varietäten der Spirochitäten anzunehmen ist, die verschiedene Widerstandsfähigkeit gegen Arsen besitzen.
Die Frage, ob vielleicht nicht doch die Serum Behandlung der chemischen gegenüber mehr Zukunft haben könne, verneinte Geheimrat Ehrlich. Bei der Serum-Behandlung erfolgt keine völlige Abtötung der Krankheitserreger. Es bilden sich neue „Serum feste Stämme“, die also wieder mit einem anderen Serum angegriffen werden müssten, worauf nach deren Abtötung wieder neue gegen das betreffende Serum immune Stämme auftauchen, zu deren abermaliger Bekämpfung ein anderes Serum erforderlich wäre. Zu solcher Kur ist aber die menschliche Natur nicht stark genug, wenngleich derartige Versuche bei manchen Tiergsttungen, z. B. Ziegen, gelungen sind.
Die außerklinische Behandlung kommt einstweilen nicht in Frage. Es muss noch eine große, mehrere tausend.Fälle umfassende Vorarbeit geleistet werden. Hauptsächlich müssen vorerst die individuellen Bedingungen genau geprüft werden, da natürlich die Konstitution des Einzelnen eine große Rolle spielt. Es können also noch nicht allgemein gültige Bestimmungen über Stärke der Dosis, Anwendung der zerrütteten Naturen usw. , aufgestellt werden, und aus diesem Grund kann Ehrlich das Präparat der Privatpraxis noch nicht zugänglich machen. Es bestände ja auch die Gefahr, dass ähnlich wie beim Auftauchen des Koch Tuberkulins, das heute so segensreich wirkt, gerade die am wenigsten geeigneten Fälle, z. B. Tabes und Paralyse, die an und für sich ganz hoffnungslos liegen, als erste und hauptsächlich zur Behandlung sich herandrängen und behandelt würden. Da bei solchen verlorenen Fällen aber keine Hilfe mehr möglich ist, würde die neue Behandlungsweise zum Schaden der Menschheit ungerecht diskreditiert werden.
Geheimrat Ehrlich, so erklärt die „F. Z.“, sehe voll Vertrauen in die Zukunft. Von allen Seiten senden ihm die Kliniker - auch die zurückhaltendsten – preisende Berichte über die Wirksamkeit seines Mittels. Erfüllt die Zeit , was die Stunde verspricht, so hat der bescheidene Forscher der Welt einen Dienst geleistet, der ihm unvergessen bleiben wird und den die Geschichte, um mit Hebbel zu reden, auf den Nagel ihres Daumens zeichnet, jene kleine Stelle, auf der die Namen der Großen beisammen stehen.
QUELLE: Villacher Zeitung, 14. Juli 1910, S 1, 2, ANNO Österreichische Nationalbibliothek. Bild: Wikipedia
https://austria-forum.org/af/User/Graupp Ingrid-Charlotte/PAUL_EHRLICH