Die Renaissance der Kulturrevolution#
China 50 Jahre danach: Wird die Kulturrevolution wieder hoffähig?#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 13. August 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Susanne Weigelin-Schwiedrzik
Wien/Peking. Eigentlich hatte die Propagandaabteilung beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas die Parole ausgegeben, dass im 50. Jahr nach der Ausrufung der Kulturrevolution im Sommer 1966 keine Artikel über die in China auch "10 Jahre des Chaos" genannte Zeit veröffentlicht werden sollten. Die Strategie der Tabuisierung ist jedoch wieder einmal nicht aufgegangen. In dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), der Pekinger "Volkszeitung", erschien am 17. Mai 2016 ein Artikel, in dem die Ablehnung der Kulturrevolution beschworen, Mao für das Unheil verantwortlich und die dahintersteckende Ideologie für absurd erklärt wurde: "Die Geschichte hat bewiesen, dass die Kulturrevolution in Theorie und Praxis völlig falsch war. Weder hätte sie es sein können, noch war sie in irgendeinem Sinne revolutionär oder sozial progressiv." Der Artikel ruft dazu auf, die "Erfahrungen aus der Kulturrevolution fest in Erinnerung zu behalten" und warnt vor allen Versuchen "von links und rechts", sich unaufgefordert zu Fragen der Kulturrevolution zu äußern.
Warum muss die Partei die Notwendigkeit, die Kulturrevolution abzulehnen, so unterstreichen?
Auch wenn die Mehrheit der Chinesen wahrscheinlich nach wie vor kein positives Bild von der Kulturrevolution hat, macht sich doch in der Gesellschaft eine Stimmung breit, die im Lichte der aktuellen Probleme die Vergangenheit verklärt.
Kulturrevolutions-Nostalgie#
Zwei Argumente werden vorgetragen: Zum einen habe die Kulturrevolution ermöglicht, dass sich jeder an politischen Diskussionen und Entscheidungen beteiligte. Nie habe es in der chinesischen Geschichte mehr Demokratie und Partizipation gegeben als in den rebellischen späten Sechzigerjahren. Außerdem habe es in der Kulturrevolution keine Korruption gegeben, die Menschen seien wirtschaftlich weitgehend gleichgestellt gewesen und hätten ein einfaches, asketisches Leben geführt. In dieser Argumentation taucht allerdings nicht auf, dass diejenigen, die in die Schusslinie gerieten, sich dagegen nicht wehren konnten, ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis landeten und oftmals zu Tode kamen. Auch taucht in dieser Argumentation nicht auf, dass Chinas Wirtschaft durch die Kulturrevolution in erhebliche Schwierigkeiten geriet und Mitte der Siebzigerjahre kaum die Bevölkerung ernähren konnte. Die Vergangenheit wird zur Utopie. Die Verlierer der Politik von Reform und Öffnung melden sich zu Wort.
Angesichts fallender Wachstumsraten gerät das implizite Stillhalteabkommen zwischen der KPCh und der Bevölkerung in der Volksrepublik China ins Wanken. Mit der Politik von Reform und Öffnung hatten Deng Xiaoping und die Kommunistische Partei der Bevölkerung versprochen, dass es ihr Jahr um Jahr besser gehen würde. Lange hatte sie dieses Versprechen zumindest in den Augen vieler Chinesen halten können. Doch mit einer Wirtschaft, die nur noch langsam vor sich hinwächst, beschleicht immer mehr Menschen der Verdacht, dass andere zwar weiterhin profitieren, sie selbst aber nicht mehr.
In einer solchen Situation der wachsenden Unzufriedenheit erinnern sich die Leute daran, dass es in einem autoritären Regime nur eine Möglichkeit gibt, die Verhältnisse zu ändern: Man muss sie grundlegend in Frage stellen. Die Kulturrevolution bietet dazu das einzige Modell, das China je hervorgebracht hat. Dieses Modell kennt man. Einen anderen Weg kennt man nicht. Die Parteiführung hat längst erkannt, wie gefährlich diese Entwicklung ist. Schon vor der Wahl Xi Jinpings zum Parteivorsitzenden begann die Suche nach einer Lösung.
Machtkampf in der Partei#
Wie immer, wenn die Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse unter Druck gerät, bilden sich unterschiedliche Meinungsgruppen innerhalb der Partei. Zwei dieser Gruppen haben sich schon vor dem 18. Parteitag ein Duell geliefert.
Der unterlegene Parteichef der Megacity Chongqing und Idol des linken Flügels der Partei, Bo Xilai, sitzt nach einer Verurteilung wegen korrupter Machenschaften 2013 im Gefängnis. In seinem Prozess wurde viel von Amtsmissbrauch gesprochen. So blieb im Ausland weitgehend unbemerkt, dass es auch um die Auseinandersetzung darüber ging, wie man das angeschlagene Image der KPCh wieder aufpolieren und die Stabilität der politischen Ordnung gewährleisten könnte. Bo Xilai hatte als Bürgermeister der Metropole Chongqing mit über 30 Millionen Einwohnern die soziale Frage in den Mittelpunkt seines politischen Programms gestellt. Er hatte mit einem Wohnbauprogramm bezahlbare Wohnungen zur Verfügung gestellt, das Gesundheitssystem sozial verträglicher gemacht und gleichzeitig mit seinen politischen Gegner aufgeräumt, indem er den Kampf gegen die "schwarze" Gesellschaft führte und die Mafia bekämpfte.
Was dabei oft nur am Rande erwähnt wird: Er rief die Bevölkerung zu mehr Solidarität und Zusammenhalt auf und meinte, dies dadurch befördern zu können, dass er an bestimmte Erinnerungen aus der Kulturrevolution anknüpfte. So ließ er nicht nur, wie auch außerhalb Chinas kolportiert, die revolutionären Lieder aus der Zeit der Kulturrevolution wieder in der Öffentlichkeit singen; er schickte auch seine Kader in die ländliche Umgebung seiner Millionenstadt, damit sie sich vor Ort mit den Lebensverhältnissen vertraut machen und ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen, unter Beweis stellen. Die Landverschickung der Kader war seit Maos Tod abgeschafft worden.
Dass diese Politik ausgerechnet in Chongqing zum Zuge kam, mag verwundern, gehört doch Chongqing zu den Städten, die während der Kulturrevolution besonders stark und lang durch bewaffnete Auseinandersetzungen erschüttert wurden. Bis heute ist Chongqing einer der wenigen Orte, an denen es einen Friedhof für die Opfer der Kulturrevolution gibt. Wahrscheinlich hat Bo gespürt, dass allen schrecklichen Erinnerungen an die Kulturrevolution zum Trotz Maos Programm der Massenmobilisierung gegen die Parteibürokratie seine subversive Kraft eines Tages wieder entwickeln würde.
Bo, Opfer der Kulturrevolution#
Bo Xilai war selber jahrelang während der Kulturrevolution im Gefängnis, sein Vater, einer der höchsten Funktionäre der KPCh vor Beginn der Kulturrevolution, wurde entmachtet und verfolgt, seine Mutter kam in den Auseinandersetzungen um. Angesichts der Gefahr, dass es in der Frage der Bewertung der Kulturrevolution zu einem Dammbruch kommen könnte, hat er mit seiner politischen Strategie verhindern wollen, dass die Massen sich erneut gegen die Parteispitze mobilisieren lassen. Mit seiner unter chinesischen Politikern seltenen charismatischen Ausstrahlung hatte er das Potenzial, sich an die Spitze der Massen zu setzen und ihren Unmut in Bahnen zu lenken, die seinen Aufstieg an die Parteispitze ermöglichen würde. In den Augen Xi Jinpings war das eine Möglichkeit, die er verhindern musste.
Bis heute prägend#
Dabei gehört Xi Jinping wie Bo Xilai zur Generation der Rotgardisten, die zu Beginn der Kulturrevolution im Sommer 1966 die Hauptstadt unsicher machten. Sie wollten dem Vorsitzenden Mao zeigen, wie revolutionär sie sind, und gingen mit großer Brutalität und Selbstherrlichkeit gegen ihre Lehrer und Professoren, gegen Künstler und Schriftsteller vor. Innerhalb weniger Monate kamen in Peking mehr als 1500 Menschen ums Leben. Doch dann wechselte Mao das Pferd. Er mobilisierte die später Rebellen genannten Jugendlichen, die nicht wie die Rotgardisten aus "gutem Hause" stammten, und führte mit ihnen den Kampf gegen seine Gegner in der Partei: die Eltern der Rotgardisten. Dabei kamen auch gleich die Rotgardisten selbst unter die Räder. Aus Tätern wurden Opfer.
Diese Erfahrung haben beide - Xi Jinping und Bo Xilai - gemacht. Aber im Gegensatz zu Bo hat Xi Jinping daraus offenbar den Schluss gezogen, dass in prekären Zeiten auf keinen Fall die "Massen" mobilisiert werden dürfen. Die Erinnerung an die Kulturrevolution gehört deshalb in die Privatsphäre. Die Diskussionen in den Internetblogs werden nur zugelassen, weil sie "inoffiziell" bleiben und die Möglichkeit bieten, Dampf abzulassen.
Doch zeigen die Ereignisse der vergangenen Wochen, dass Xi zwar in der Lage war, Bo Xilai und seine Strategie auszuschalten. Die pro-maoistische Strömung in der Gesellschaft und in der Partei hat er jedoch nicht unterdrücken können. Zwar versucht er, den Unmut der Bevölkerung auf die Korruption zu lenken und zugleich mit seiner Anti-Korruptionskampagne seine Gegner in der Partei zu schwächen, doch ist es ihm bisher nicht gelungen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Ideologie muss herhalten#
Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. In solchen Zeiten muss die Ideologie herhalten. Die Daumenschrauben werden angezogen und den Medien wie der Wissenschaft stärker als in den vergangenen Jahren Vorgaben gemacht, was sie zu verkünden haben.
Zunächst zeigte sich das im Bereich der Geschichtsschreibung. Die Jahre vor dem Beschluss zu Reform und Öffnung und die Zeit danach dürften nicht schwarz-weiß gegenübergestellt werden.
Das Gesamturteil über 100 Jahre KPCh soll im Jahr 2021 genauso positiv ausfallen wie das Gesamturteil über 100 Jahre Volksrepublik China, ein Jahrestag, der im Jahr 2049 ansteht. Zu diesem Zweck soll die Zeit der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 von der Kulturrevolution an sich unterschieden und damit die zehn Jahre des Chaos insgesamt in besseres Licht gerückt werden. Die Zeit danach - also die Zeit, für die Deng Xiaoping im Wesentlichen verantwortlich zeichnet - darf nach dieser Vorgabe dann auch kritisiert werden.
Die Kritik an Deng Xiaoping, dem 2014 aus Anlass seines 110. Geburtstags noch eine Fernsehserie gewidmet wurde, in der er voll zur Geltung kam, wird denn auch immer deutlicher geäußert. Zunächst bezog sich diese auf seine Auffassung, dass es auch im Sozialismus möglich sein sollte, dass ein Teil der Gesellschaft zuerst reich wird. Inzwischen geht diese Kritik weiter, und im Internet wird darüber diskutiert, ob nicht Deng Xiaoping und der damalige Staatspräsident Liu Shaoqi - die beiden wurden von Mao zu seinen Hauptgegner erklärt - für die Gewaltausbrüche in der ersten Phase der Kulturrevolution verantwortlich seien. Sie hätten ihre Kinder auf die Intellektuellen gehetzt, um zu verhindern, dass die Bewegung sich gegen die Parteibürokratie richtet. Ihr Ziel sei es gewesen, ein gesellschaftliches Chaos herbeizuführen und Mao dazu zu veranlassen, die Kulturrevolution wieder abzubrechen. Weil ihnen das nicht gelungen sei und Mao sich mit Unterstützung der Rebellen gegen sie gewandt habe, hätten sie sich nach Maos Tod an den Rebellen gerächt. Unter den heute offen als Maoisten auftretenden Kritikern der Politik von Reform und Öffnung sind nicht wenige, die Opfer dieser Rache wurden. Sie sehen nun die Zeit gekommen, sich ihrerseits zu rächen.
Inzwischen ist diese Strömung offenbar so stark geworden, dass selbst der Parteivorsitzende nicht mehr seine Strategie durchsetzen kann, ohne mit ihr einen Kompromiss einzugehen. Und das, obwohl sich ihre Interpretation der Ereignisse aus dem Jahr 1966 genau gegen jene richtet, die wie Xi Jinping 1966 als Rotgardisten aktiv waren und deren Eltern zur damaligen Zeit höchste Ämter in Partei und Staat innehatten.
Die Maoisten zeigen Flagge#
Dass sich die Maoisten in der Partei einiges zutrauen, zeigt ein Ereignis von Anfang Mai, das den oben erwähnten Artikel in der Pekinger Volkszeitung erforderlich machte. Im Zusammenhang mit den Feiern zum 1. Mai wurde in der Großen Halle des Volkes - jenem Ort also, an dem der Nationale Volkskongress zwei Mal im Jahr zusammentritt - ein Konzert mit revolutionären Liedern gegeben. Zum Erstaunen vieler, die sich noch daran erinnern können, stammte ein Großteil des Konzerts aus dem Repertoire der Kulturrevolution. Der Raum war mit einem Banner geschmückt, auf dem die Parole "Nieder mit dem US-Imperialismus" prangte, ein Slogan, der seit der Wiederannäherung zwischen China und den USA in den Siebzigerjahren nicht mehr im Gebrauch war.
Die in Peking zahlreich vorhandenen Nachkommen von Opfern der Kulturrevolution merkten sofort, dass hier die Methode Bo Xilai in Peking zur Anwendung kam und befürchteten, dies sei ein Zeichen, dass die linken Ideologen ihre positive Version der Kulturrevolution nun schon in das Zentrum der Macht getragen hätten. Ein offener Brief wurde verfasst, in dem die Ablehnung der Kulturrevolution eingefordert wurde. Die Antwort war zunächst kläglich: Man habe das Programm des Konzerts gar nicht gekannt, es habe sich ja um eine rein kommerzielle Veranstaltung gehandelt. Man sei von den Veranstaltern getäuscht worden. Politisch sei das alles nicht gewesen. Die aufgeregte Diskussion im Internet zwischen denen, die sich vor einem erneuten Ausbruch von Gewalt unter dem Banner der Kulturrevolution fürchten, und jenen, die ihren Unmut über die soziale Lage in China mit Hilfe einer Verklärung der Kulturrevolution zum Ausdruck bringen, konnte offenbar nur mit einem Artikel in der parteioffiziellen Volkszeitung noch in Grenzen gehalten werden.
Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist Professorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien sowie Dekanin der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät.