"Ich möchte gern gut sein" #
Der Schauspieler über seine Liebe zum Theater, die Umarmungen durch Shakespeare und die Angst vorm Scheitern.#
Von der Wiener Zeitung (25. Dezember 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Christine Dobretsberger
"Wiener Zeitung": Herr Brandauer, es ist ziemlich genau zehn Jahre her, dass man Sie hier auf der Bühne des Burgtheaters als König Lear erleben durfte. Nach diesem Ereignis dachte ich mir, welche Rolle am Theater könnte es überhaupt noch geben, die Sie reizen könnte?
Klaus Maria Brandauer: Ich kann noch nicht darüber sprechen, aber Sie werden mich wieder hier sehen.
Als Sie den König Lear spielten, waren Sie 70 Jahre alt. Shakespeare hat Lear ein Alter von 80 Jahren zugeschrieben. Im kommenden Jahr feiern Sie diesen runden Geburtstag. Peter Stein, der damals Regie führte, meinte, dass Sie als Schauspieler auf der Bühne nichts von Ihrer Persönlichkeit aussparen würden. In den zehn vergangenen Jahren ist sicherlich viel in Ihrem Leben passiert; würden Sie den Lear heute anders spielen als damals?
Man muss nicht 80 sein, um sich in einen 80-Jährigen einfühlen zu können. Vielleicht war er ja auch jung in manchen Momenten? Natürlich färbt die gewonnene Lebenserfahrung auf die Arbeit ab. Aber das bedeutet nicht, dass man gescheiter geworden, richtiger geworden ist - aber es ist eine gute Idee, den Lear wieder zu spielen!
Die Werke von Shakespeare üben auf Sie von jeher einen besonderen Reiz aus. Sie sagten einmal, wenn Sie Shakespeare-Dramen lesen, denken Sie sich: Woher kennt der mich?
Ich fühle mich bei Shakespearerollen immer irgendwie ertappt, indem ich den Eindruck habe, das hätte mir auch passieren können oder das hätte ich auch gerne gemacht. Es ist ein aufregender, herrlicher Kosmos bei Shakespeare, der einem gleichwohl Freude wie Kummer bereitet. Man ist ständig mit der Frage beschäftigt, wie lässt sich das darstellen - oder besser gesagt -, wie lässt sich das leben oder erleben? Dafür müssen wir eine große Portion von uns selbst hergeben und uns vor allen Dingen intensiv mit dem Text beschäftigen - viele, viele Stunden, eigentlich täglich, auch außerhalb der Proben.
Lesen Sie zu diesem Zweck auch Sekundärliteratur?
Selbstverständlich, alles, was man kriegen kann! Das ist ganz wichtig, aber davon darf man sich nicht zuschneien lassen, sonst liegt man plötzlich unter der Schneedecke und hat fast keinen Mut mehr, diese große Person darzustellen, dann hat man zu sehr Angst oder fühlt sich eingeengt. Wobei es im Grunde überhaupt nicht nötig wäre, weil der Willi, wie ich immer zu meinen Schauspielschülern gesagt habe, wenn ich über Shakespeare sprach, umarmt einen dann irgendwann ohnehin und zieht einen genau dorthin, wo er uns haben möchte. Dieser Lear war auch deshalb eine besondere Aufführung für mich, weil ich mit Peter Stein sehr gut zusammengearbeitet habe und noch dazu an einem großen schönen Haus wie dem Burgtheater. Ich kann es nicht fassen, ich bin seit 50 Jahren hier...
In Ihrer ersten Zeit am Burgtheater haben Sie noch den damaligen Chef-Dramaturgen Friedrich Heer erlebt, den Sie als wichtigen Menschen in Ihrem Leben bezeichnen.
Es waren herrlich philosophische Gespräche mit ihm. Er war ein außergewöhnlich kluger und gebildeter Mensch. Dem Friedrich höre ich innerlich jetzt noch zu, wie er über seine Sicht der Dinge gesprochen hat. Das war immer sehr aufschlussreich.
Dann gab es auch diese denkwürdige Begegnung mit seiner Frau Eva Heer...
Eines Tages auf einer Probe von "Kabale und Liebe" kam in der Pause eine Dame zu mir, die ich bis dahin nicht kannte und sagte: Sie machen das zwar ganz gut, aber ich könnte Ihnen doch sehr viele Dinge dazu sagen. Das interessierte mich natürlich und wir trafen uns, zuerst noch gemeinsam mit Traudl Jesserer, die nach einiger Zeit jedoch meinte: Ich geh doch nicht noch einmal auf die Schauspielschule! Mich hat Eva Heers Meinung aber sehr interessiert - und so haben wir mehrere Stücke gemeinsam durchgesprochen und ich ließ mich von ihren Anregungen inspirieren.
War Eva Heer Dramaturgin?
Nein, sie war Schauspielerin - und zwar eine ziemlich gute, einmal hatte sie auch in einem Film meiner Frau Karin mitgewirkt.
In Ronald Pohls Buch "Klaus Maria Brandauer - Ein Königreich für das Theater" gibt es folgendes Zitat: "Brandauer versteht es wie kein anderer deutschsprachiger Schauspieler, den von ihm gespielten Figuren den Sound der Vernunft mitzugeben." Wie stehen Sie zum Thema Vernunft generell im Leben?
Ich freue mich über eine solche Feststellung natürlich und im Zusammenhang mit dem Theater stimmt das vielleicht auch, aber ich habe eher das Gefühl, dass ich mich in meinem ganzen Leben immer wieder bei unvernünftigen Dingen sehr wohlgefühlt habe.
Claus Peymann meinte, dass sich in Ihnen, wie bei den meisten großen Schauspielern, immer auch das spezielle Kind verbirgt.
Das wird gerne in Anlehnung an Max Reinhardt gesagt, der den Satz prägte, dass ein Schauspieler ein Mensch sei, dem es gelungen ist, die Kindheit in die Tasche zu stecken und sie bis an sein Lebensende darin aufzubewahren. Das sind alles liebenswerte Ausdrücke über die Tätigkeit, aber ehrlich gesagt, ich bin jetzt so lang dabei, ich möchte nicht kindlich bleiben. Ich möchte, ganz im Gegenteil, erwachsen sein! Es ist anstrengend genug, zu sich selber zu finden und weiterzuarbeiten, immer wieder aufs Neue Versuche zu starten: die erste Probe, die zweite, ständig hinterfragend, wie es weitergeht, mit einem selber und all jenen, die auf den Entstehungsprozess einer Produktion Einfluss ausüben. Ich will nicht sagen anstrengend, aber es ist wirklich mühsam, zum rechten Weg zu gelangen im Bezug auf den Text, den Sie sprechen, und dabei nicht aus der Hand des Autors zu fallen und auch selbst darin noch vorzukommen.
Was ist die Quintessenz dieser Bestrebungen?
Ich möchte gerne der sein, den ich vorgebe zu spielen, wissend, dass das überhaupt nicht geht, aber ich versuche es - immer wieder. Ich fürchte mich auch ein bisschen vor dem Zusammenkommen bei der ersten Leseprobe, wobei fürchten ist vielleicht übertrieben, aber neugierig bin ich sehr und ich hoffe, dass das, was ich herausgelesen habe, andere in ähnlicher Weise herausgelesen haben. Fritz Kortner war übrigens eine große Inspiration für mich, was die Auseinandersetzung mit Texten betrifft. Ein Buch oder ein Text will nicht interpretiert werden, sondern gelesen, verstanden, benützt. Von Kortner konnte man lernen, wie man Texte entschlüsselt, um damit arbeiten zu können.
Sowohl am Theater wie beim Film eilt Ihnen der Ruf voraus, dass Sie sich die Projekte sehr genau aussuchen und mehr Rollen absagen als zusagen.
Ich glaube, ich habe es verstanden, mich den Leuten lieber auszureden als einzureden, und bin gelegentlich sehr überrascht, dass ich mir zutraue, immer noch etwas zu machen, womit man vielleicht nicht rechnet. Am Anfang hatte ich einfach Riesenglück, diese großen Rollen zu bekommen - Romeo, Hamlet, Don Carlos. Damals dachte ich gar nicht darüber nach, erst heute weiß ich, wie privilegiert ich war, dass man mir das alles zugetraut hat. Deshalb habe ich auch immer das Gefühl und die Verpflichtung, mich so auszupressen und so gut zu sein, wie es überhaupt nur möglich ist. Und Angst davor, dass ich scheitere, und zwar nicht Scheitern im Hinblick auf Kritiken, sondern vor mir selber. Ich möchte tatsächlich gern gut sein, wenn’s geht.
Gab es in Ihrem Leben je einen anderen Berufswunsch, als Schauspieler zu werden?
Nein, auf dem Dachboden von meinem Großvater stand ein blinder Spiegel, den man dort raufgestellt hatte, weil man sich darin nicht mehr gut sehen konnte. Mit einem Kopftuch und einer Schürze meiner Mutti habe ich dort König Hussein von Jordanien gespielt. Ich fand es gut, ein König zu sein, der solch ein Aussehen hat. Ich kann mich auch sehr genau daran erinnern, als ich als Kind mit meiner Oma in Salzburg Will Quadflieg als Jedermann sah. Ich sagte, den werde ich auch einmal spielen! Ich dachte, es sei ganz logisch, dass ich als Schauspieler Karriere mache. In solchen Augenblicken ist man natürlich nicht mehr immun gegen sich selbst. Es ist ohnehin schwer, gegen sich immun zu bleiben. Ich wünsche mir das und bilde mir ein, es nun gelegentlich zu sein. Der Lear kann das Trampolin für solche Reflexionen sein.
In der zweiten Klasse Volksschule spielten Sie Ihre erste Hauptrolle, den "Struwwelpeter".
Und die Leute meinten zu meinen Eltern: Ihr Sohn wird einmal Schauspieler! Wobei mein Vater immer beschwichtigend einwirkte und meinte, langsam, langsam...
Er hätte Sie gerne einen anderen beruflichen Weg einschlagen gesehen?
Ja, aber nicht, weil er mir diesen Wunsch per se verwehren wollte, sondern weil er sicher geglaubt hat, dass man in diesem Metier schwer Fuß fassen kann. Meine Mutter hat mich von Anbeginn unterstützt, und das Schöne war, dass mein Vater dann auch einwilligte, allerdings mit der Auflage, dass ich auf eine staatliche Schauspielschule gehen und jedes Wochenende nach Hause kommen sollte, damit er es mir ausreden kann.
Ihre Mutter wollte Ihnen wiederum die Rolle des Baron Bror von Blixen-Finecke in "Jenseits von Afrika" ausreden, für die Sie letztlich mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurden. Warum war sie dagegen?
"Nein!", sagte sie, "der hat eine Krankheit und steckt Karen an - das spielst du nicht!" Letztlich bin ich aber froh, dass ich es gemacht habe. Während der Dreharbeiten rief übrigens Peymann an, weil kurzfristig eine Ersatzvorstellung von "Hamlet" auf den Spielplan gesetzt wurde.
Sie sind für eine Vorstellung von Afrika nach Wien geflogen?
Natürlich, wenn ich die Chance habe, Theater zu spielen, dann spiele ich selbstverständlich Theater.
Theater hat also oberste Priorität?
Unbedingt! Aber eben mit diesem Anspruch, dass die Rahmenbedingungen passen müssen.
War das Burgtheater von jeher der große Sehnsuchtsort für Sie?
Der ganz große Traum - und darauf hatte einer der Sommergäste im Haus meiner Großeltern in Altaussee einen wesentlichen Einfluss, und zwar der Korvettenkapitän Karl Renner aus Wien. Er erzählte immer wieder vom Burgtheater und vom Burgtheaterdeutsch, das man allerdings nicht übertreiben sollte! Und plötzlich steht man dann eines Tages tatsächlich hier auf der Bühne - und da gibt es wirklich nur eines und ich sage es ganz offen: Dankbarkeit.
Als junger Mann ergriffen Sie diesen Beruf mit dem idealistischen Gedanken, die Welt ein klein wenig besser machen zu wollen. Wie denken Sie heute über dieses Ansinnen?
Die Welt lassen wir weg, aber wenn die Lichter angehen, möchte ich für die Menschen, die am Abend ins Theater kommen, schon etwas tun. Und wenn man das Glück hat, sich mit den großen Werken der Weltliteratur befassen zu dürfen, ist das ja schon die halbe Miete.
Sie sprachen eingangs Ihr Wirken am Max Reinhardt Seminar an.
Dieses Angebot kam zu einem Zeitpunkt, als ich mich nach dem Tod meiner Frau Karin nicht in der Lage sah, aufzutreten. Es ging einfach nicht. Just in diesem Moment kam der Anruf von Nikolaus Windisch-Spoerk (Leiter des Max Reinhardt Seminars von 1989 bis 1999, Anm.): Du kannst doch nicht dauernd nur in Altaussee spazieren gehen, komm und kümmere dich um die jungen Leute! Und es hat mir fünfzehn Jahre lang eine große Freude bereitet.
Wie würden Sie Ihren Unterrichtsstil beschreiben?
Man geht aufeinander zu und vergisst, wenn es geht, dass man Lehrer ist. Das klingt so einfach - und ich behaupte, so einfach ist es. Das bedeutet nicht, dass man bisweilen nicht mehr weiter weiß und lieber den Hut draufhauen würde. Aber im Grunde geht es - nicht nur am Theater - doch immer darum, diesen Weg vom Ich zum Du zu finden.
Eine Ihrer Schülerinnen war Birgit Minichmayr.
Da gab es nicht viel zu erklären, sie ist einfach ein außergewöhnliches Geschöpf, auch Philipp Hochmair zählt zu jenen Schülern, mit denen ich mich bis heute verbunden fühle - und das ist schön.
Wenn ich das so direkt sagen darf: Sie strahlen eine Zufriedenheit aus - oder gibt es das Wort Zufriedenheit für Sie nicht?
Doch! Weil ich mich nach wie vor über viele Dinge freuen kann. Ich habe noch nie daran gedacht, wie es sein wird, wenn ich nicht mehr auftrete - das möchte ich mir gar nicht vorstellen. Ich möchte noch ein bisserl dabei sein, aber dieses Bisserl kann auch später sein - das kann warten.
Zur Person#
Klaus Maria Brandauer wurde 1943 als Klaus Georg Steng in Altaussee geboren. Nach der Matura studierte er zwei Semester lang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, bevor er 1963 am Landestheater Tübingen als Claudio in Shakespeares "Maß für Maß" debütierte. Weitere Stationen in Brandauers Theaterkarriere waren u.a. das Salzburger Landestheater, das Schauspielhaus Düsseldorf, das Bayerische Staatstheater München und das Theater in der Josefstadt. Seit 1972 ist Brandauer Ensemblemitglied und Regisseur am Wiener Burgtheater und verkörperte von Hamlet bis König Lear die großen Hauptrollen der Weltliteratur. Von 1983 bis 1989 gab Brandauer den Jedermann bei den Salzburger Festspielen.
Den internationalen Durchbruch als Filmschauspieler schaffte er 1981 mit der Rolle des Hendrik Höfgen in der Verfilmung "Mephisto" unter der Regie von István Szabó (Oscar für den besten fremdsprachigen Film). Weitere große internationale Kinoerfolge feierte Brandauer u.a. als Maximilian Largo, Gegenspieler von Sean Connery im James-Bond-Film "Sag niemals nie" (1983) sowie als Baron Bror Blixen-Finecke in "Jenseits von Afrika". Für diese Rolle erhielt er den Golden Globe. An der Seite von Connery spielte Brandauer auch in dem Spionagethriller "Das Russland-Haus" (1990).
Von 1996 bis zu seiner Emeritierung 2011 unterrichtete Brandauer am Max Reinhardt Seminar Rollengestaltung.
Klaus Maria Brandauer war bis zu deren Tod (1992) mit der Regisseurin und Drehbuchautorin Karin Brandauer verheiratet. Aus dieser Ehe ging ihr gemeinsamer Sohn Christian (geb. 1963) hervor. 2007 heiratete Brandauer die Theaterwissenschafterin Natalie Krenn, 2014 kam ihr Sohn Ferdinand zur Welt.
Buchtipp: Ronald Pohl: "Klaus Maria Brandauer: Ein Königreich für das Theater", Braumüller, Wien 2014, 208 Seiten, 21,90 Euro.
Christine Dobretsberger, 1968 geboren, lebt als freie Journalistin und Autorin in Wien.