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unbekannter Gast

Gespräche enden immer in Fragen #

Eine Würdigung des Malers, begnadeten Erzählers, Rezitators und Literaturfreundes.#


Von der Wiener Zeitung (19. Februar 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Michael Rohrwasser


Buchcover: Rudolf Schönwald - Die Welt war ein Irrenhaus
© Paul Zsolnay Verlag

In einem alten "austrographischen Lexikon" der Siebziger aus der Feder von Hans Georg Behr (über den Gerhard Rühm einmal sagte, der sei nicht zwielichtig, sondern "trilichtig"), heißt es über Rudi Schönwald: "Wer ihn kennt, rechnet ihn zur Spitzengarde der Bildenden Künstler Wiens, aber wer kennt ihn schon?"

Fünfzig Jahre danach hat sich daran nicht viel geändert, und daran ist auch Rudi Schönwald nicht unschuldig, der von seiner Person nie Aufhebens machte und nicht nur meine Einladungen für TV-Interviews und auch für ein Gespräch mit der "Wiener Zeitung" ausschlug.

Statt von sich zu erzählen, erinnerte er sich lieber an seine Zeitgenossen, vor allem an jene, die er liebte oder die ihn faszinierten. Nachdem er mir eines Abends die schreckliche und glückliche Geschichte des Überlebens seiner Mutter erzählte, die die Lager von Auschwitz, Bergen-Belsen und Salzwedel überlebt hatte, und ich ihm vorschlug, das doch endlich aufzuschreiben, antwortete er: "Aber ich hab’s Dir doch erzählt." Und er fügte hinzu: "Wer mich fragt, dem antworte ich: Was willst Du noch mehr?"

Dennoch ist in den letzten fünfzig Jahren viel geschehen. Aus der Welt des Theaters, die in den fünfziger Jahren sein Leben ein Stück weit bestimmte, hat er sich allmählich wegbewegt. Vor allem hat sich das Sujet seiner Gemälde und Graphiken verwandelt. Die barocke Welt der Gargantua und Pantagruel oder des Roi Ubu hat er verlassen (aber seine großen graphischen Zyklen über Daniel Defoes "Captain Singleton", über Voltaires "Candide" und über die großen Figuren von Rabelais und Alfred Jarry werden bleiben).

Das letzte Denkmal dieser Ära ist eine Figur, die in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren im "Neuen Forvm" erschien: Goks, ein Wiener Roi Ubu, ein Kobold, der durch die Stadt und deren Friedhöfe streift und einmal auch auf den Stephansdom klettert (aber dort kein so gewaltiges Unheil anrichtete wie sein Vorfahre Pantagruel, der von einem der Türme von Notre Dame aus seine Notdurft verrichtet). Goks war ein surrealistischer Anarchist, der in den Kalten Krieg geraten war, in die Welt der Überläufer und Doppelagenten. Günther Nenning, der Herausgeber der Zeitschrift "Neues Forvm", beklagte sich, dass Goks ihm jeden Monat zwei Abonnenten koste, aber das sei er ihm doch wert.

Danach ist Rudi Schönwald, der 1976 zum Professor für Bildnerische Gestaltung an der Technischen Hochschule Aachen ernannt wurde, zu dem großen Chronisten der verlassenen Industrielandschaften geworden. Seine Wanderung mit Papier und Staffelei begann in der Nachbarschaft Aachens, in den Industriegruben Belgiens, der Borinage, wo einst die Feuer der Hochöfen loderten, und führte ihn weiter zu den verlassenen Ziegeleien bei Antwerpen und zu den Bergwerken von Charleroi, später auch nach Sardinien, und immer öfters zu den osteuropäischen Industrieruinen. Diese Exkursionen hat er, trotz seines hohen Alters, bis in die letzten Jahre fortgesetzt.

Allein den Kampf um die Erlaubnis, diese verbotenen Zonen betreten zu dürfen, haben nur wenige gewonnen. In dem Band "Schrei der Metalle. Industriekathedralen" (Verlag Pustet 2005) sind einige dieser Wanderungen dokumentiert, und Erich Hackl hat ihn da den "Piranesi der Borinage" genannt. Die letzte große Ausstellung dieser Zeichnungen war vor zehn Jahren im Klosterneuburger Essl-Museum zu sehen, man kann sie aber auch in Freiburg besichtigen, in der Sammlung der Stiftung Morath.

Spiegel des Lebens#

Ich habe Rudi Schönwald aber nicht als Maler und Graphiker, sondern als Menschen kennengelernt, der in der Literatur lebt und sich dort bewegt wie kein anderer, nicht nur, weil er alles weiß, sondern weil er auch alles vortragen kann. Dabei war Literatur nicht Fluchtpunkt, sondern Spiegel des Lebens, sie bedeutete auch Begegnung mit seinen Zeitgenossen, von H. C. Artmann, mit dem er in Alpbach einmal die Rollen tauschte, d.h als dessen alter ego seine Texte vortrug, bis zu Georg Eisler, Elias Canetti und Josef Dvorak, dem intellektuellen Kopf des Wiener Aktionismus.

Während wir Zuhörer noch nach dem Titel des Gedichts von Brecht fischten, begann Rudi es schon vorzutragen. Dass seine Erzählungen oft in Anekdoten mündeten, schreibe ich seiner Menschenfreundlichkeit zu - er wollte uns nicht überfordern. Als ich ihm einmal erzählte, dass ich an einem Vortrag über Brechts vergessenes Langgedicht über "Die Erziehung der Hirse" schreibe, zitierte er ein paar Strophen und dann auch noch ein Spottgedicht von Friedrich Torberg: "Tanderadei, tanderadei, gar köstlich schmeckt der Hirsebrei".

Nicht selten schlugen Bewunderung und Ehrfurcht um in Entsetzen, weil wir gar zu unwissend und zu langsam waren für Rudi. Einmal, bei mir zu Gast, griff er ein Buch aus dem Regal heraus, "Ich fraß die weiße Chinesin", und erklärte mir, wer sich hinter dem italienischen Pseudonym verberge, nämlich ein Onkel von Barbara Coudenhove-Kalergi (nachdem diese in ihren Memoiren das vor ein paar Jahren enthüllt hat, darf man es auch hier getrost weitererzählen). Bühnenbilder für Brecht

Zurück zu Brecht. Rudi hatte ihn kennengelernt, als dieser das Neue Theater in der Wiener Scala besuchte, wo seine Bearbeitung von Lenz’ "Hofmeister" gespielt wurde. "Kein angenehmer Mensch", sagt Rudi, und erzählt eher schauerliche Anekdoten, um dann mit dem Loblied des Schriftstellers fortzufahren. Er habe keine der neun Aufführung des "Hofmeisters" versäumt: die Geschichte eines deutschen Hauslehrers, kontrastiert mit dem französischen Figaro von Beaumarchais. Der eine wird kastriert, während der andere die Revolution anzettelt. Kein späteres Theaterstück habe es geschafft, ihn so in den Bann zu ziehen.

Dass Rudi Schönwald Bühnenbilder für Brecht entworfen hat (zum Beispiel für "Die sieben Todsünden", den "Lindberghflug" und für "Mahagonny"), erzählt er nebenbei, ohne Aufhebens davon zu machen. Die Wiener Staatsoper hat "Mahagonny" vom Programm gestrichen (in den späten 80ern), aber weil er dann sein Salär eingeklagt habe, wurde aus Angst vor dem Rechnungshof doch noch eine Aufführung anberaumt.

Überhaupt nimmt Schönwald seine Theaterjahre nicht sehr wichtig. Dabei wurde am Theater am Fleischmarkt, wo er als technischer Leiter angestellt war, die französische Avantgarde auf die Bühne gehoben: Samuel Beckett, Jean Genet, Eugene Ionesco und andere. Becketts "Endspiel" wurde von Roger Blin inszeniert, der Schönwald am stärksten beeindruckte, weil er ganz dem Theater ergeben war und in Sommerschuhen durch den Wiener Winter stapfte.

Das Stück hatte keinen Erfolg. Einer der wenigen Zuschauer war Theodor W. Adorno, der im Gegensatz zu Helmut Qualtinger und Friedrich Torberg die Aufführung schätzte (und bald darauf seinen "Versuch über das Endspiel" schrieb). "Später, in ihren Erinnerungen, saßen die Wiener alle in diesen Aufführungen", sagt Rudi mit mildem Spott, tatsächlich seien damals die Reihen fast leer gewesen. Die anderen Wiener Bühnen hätten seinem Theater am Fleischmarkt übel mitgespielt, darum hätte es bald die Pforten geschlossen.

So lange sein Engagement dauerte, sei er in dem Theater das Mädchen für alles gewesen, er habe Jean Genet und seinen arabischen Freund geleiten und bewachen müssen, und er sei ein paar Mal auch auf der Bühne gestanden, in dem Stück "Escorial" von De Ghelderode gar mit dem cholerischen Klaus Kinski, der sich darüber empörte, die Bühne mit einem Laienschauspieler teilen zu müssen.

Als wir uns das erste Mal begegneten, vor vielleicht fünfzehn Jahren, fragte er mich nach meinem Lieblingsautor, und weil ich nicht das Erwartbare sagen wollte, nannte ich jenen Autor, der mich wirklich am längsten verfolgt hat, auch in meinen Jahren in Schlesien, nämlich Franz Jung, den Expressionisten, Dramatiker und Brecht-Dramaturgen, den Revolutionär, der ein Schiff entführte, um zur Tagung der Kommunistischen Internationale in Petersburg zu gelangen, und dort Lenin rapportierte, was diesen zu seiner Schrift "Der Linksradikalismus, eine Kinderkrankheit des Kommunismus" inspirierte. Im Grunde war das der Anfang unserer Freundschaft, weil wir uns hier unerwartet trafen, bei einem Außenseiter, der ihn elementarer als mich beschäftigt hat. Rudi ist auf Franz Jung in den sechziger Jahren gestoßen. Der Hinweis auf diesen verschollenen Autor sei damals von Reinhard Priessnitz gekommen, einem Wiener Schriftsteller und Redakteur beim "Neuen Forvm", der ihn immer mit neuen Büchern und Namen versorgt habe.

Bei der Lektüre von Jungs Autobiographie, "Der Weg nach unten", entdeckte er, dass er in seinem frühen Exil in Budapest, von 1942 bis 1945, schon unbemerkt auf den Spuren von Jung gewesen war und dessen Wege gekreuzt hatte. Aber ins Tanzparadies der "Arizona-Bar", wo Jung mit seiner Angebeteten residierte, durfte der viel zu junge Rudi nicht hinein, ein goldbetresster Türhüter in Admiralsuniform habe ihm den Zutritt verweigert.

Rudi Schönwald wusste viel von Franz Jung zu erzählen, von seiner undurchschaubaren Rolle, die er im Exil in Budapest spielte, von den unheimlichen Nachbarschaften, die ihm beinahe das Leben kosteten, von seinen Freundinnen und Freunden. Aber Rudi nahm alles wahr, nicht nur die politischen Abwege Jungs, sondern auch, was er danach unternahm, seine Kuchenbäckerei in Italien, seine Begegnungen mit Pater Pio, einem katholischen Wunderrabbi, die düstere Geschichte von seiner Tochter Dagny, die der Nazi-Euthanasie zum Opfer gefallen war. Vor allem interessierte Rudi eine Freundin Franz Jungs, Ruth Fischer, die er im Nachkriegs-Wien wiedergetroffen hat. Erstaunt stellte er im Café Eiles fest, dass die militante Antikommunistin gerade dabei war, sich wieder der "Partei" zu nähern.

Die alten Genossen#

Der "Partei" und ihren Genossinnen und Genossen galt immer seine, nein: unsere besondere Neugier. Er erzählte, wie die Wiener in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren den Gehsteig wechselten, wenn ihnen etwa Ernst Fischer, der Unterrichtsminister der ersten Nachkriegsregierung, entgegenkam. Er kannte sie gut, die alten Genossen, vor allem Hanns Eisler und noch genauer Franz Marek (mit dem später seine Schulkameradin, Barbara Coudenhove-Kalergi, liiert war) weckten seine Neugierde und waren ihm ans Herz gewachsen. Er wies mich begeistert hin auf die "Lebenserinnerungen" von Franz Marek, die vor nicht langer Zeit im Mandelbaum-Verlag erschienen waren.

Später hat ihm Priessnitz auch die Bücher von Günther Anders empfohlen, der, so Rudi, ein wenig "vom Geist der Friedensbewegung infiziert war, wenn auch nicht völlig" - auch das war eine Empfehlung mit Folgen, weil er dabei entdeckte, dass seine Mutter in Breslau mit Günther und dessen Schwester im Sandkasten gespielt hat - so haben sich Isolde Schönwald und Elisabeth Stern wiedergefunden. Eine Zeitlang hat er Anders dann beim Neujahrsempfang in der kubanischen Botschaft getroffen, so lange, bis Günter Maschke, dem Rudi in Wien einen Monat lang Unterschlupf gewährt hatte, in Kuba in Ungnade gefallen war. Auch Maschke, damals Mitglied der verbotenen KPD und von der österreichischen Polizei zur Fahndung ausgeschrieben, inzwischen Carl-Schmitt-Herausgeber, interessiert ihn immer noch, und er studierte mit Neugier die Festschrift, die in einer katholischen Privatuniversität in Spanien erschienen ist.

Das Besondere an den Buchratschlägen, die wir uns gaben, war, dass wir sie ernst nahmen. Ich las die Bücher von Ernst Fischer, die Karl-Markus Gauß neu herausgegeben hatte, oder die neue Ruth- Fischer-Biographie von Mario Keßler, und Rudi Schönwald las das "Tagebuch der Hölle" von Jan Valtin (vor kurzem wiederaufgelegt im Wiener Bahoe-Verlag) und "Geheimnis und Gewalt" (im Wiener Ça ira Verlag wiederaufgelegt), zwei Bücher, die mich lange Zeit beschäftigt hatten. Letzteres Buch, aus der Feder eines alten Emigranten, Georg K. Glaser, bewegte ihn dazu, zu unserem nächsten Treffen einen befreundeten Maler einzuladen, der sich in den Nachkriegsjahren mit Glaser getroffen hatte.

Das heißt auch: Bücher zogen Menschen nach sich, und Menschen Bücher. Das war ein wenig wie in den Essays von Freud, wo die Geschichten von Patienten und die Erzählungen von literarischen Fällen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Einmal schenkte ich ihm Katia Manns "Ungeschriebene Memoiren", wo Katia sich an einen Herrn Pringsheim aus Breslau erinnert, der ihr den Hof gemacht hat. Das hätte immerhin den einen Vorteil gehabt, schreibt (oder: diktiert) Katia, dass sie im Fall einer Heirat ihren Namen hätte behalten dürfen (Rudi Schönwalds Mutter war eine geborene Pringsheim).

Nach einem Kinobesuch beklagte sich einmal eine ambitionierte Kollegin, der Film sei eben "doch nicht auf der Höhe der Theorie". Das ist eine Kategorie, die Rudi und mich nicht sehr beschäftigte, weil wir uns einig waren in der Antwort: "Umso schlimmer für die Theorie." Dabei bewunderte ich immer die Sicherheit, mit der er die richtigen Romane mit scharfsinnigen Argumenten lobte, Romane oder Stücke abseits der main street, wie Daniel Defoes "Captain Singleton" oder Wassili Grossmans "Leben und Schicksal", aber hellhörig für deren ästhetische Grundierung. "Metaferl-Klasse"

In Rudi Schönwalds Wahrnehmungen verschmolzen Buch und Autor, sofern er beide kannte, wie es bei Canetti, Brecht, Doderer oder Genet der Fall war. Seine Anmerkungen waren scharfsinnig, manchmal auch böse. Auch musste er mir als Piefke zwischendurch seine Pointen erklären, wenn er beispielsweise über einen Autor sagte, der sei in der "Metaferl-Klasse" sitzengeblieben.

Über Richard Coudenhove-Kalergis Pan-Europa-Idee merkte er einmal an, dass diese Idee dann leider von der SS verwirklicht worden sei, mit ihrem Plan einer europäischen Polizei. Auf seine Anmerkungen war Verlass. Als ich ihn zuletzt auf Carl Laszlo hinwies, Autor eines fesselnden autobiographischen Berichts über Auschwitz ("Ferien am Waldsee"), war ich nur noch wenig überrascht, dass auch sie sich gekannt haben. Rudi hat in seinem Theater einst fünf Dramolette Laszlos auf die Bühne gebracht. Dass der Librettist Auschwitz überlebt hatte, hat er Rudi nicht erzählt, sowie Rudi gewiss nicht von seiner Mutter.

Nicht sein beeindruckendes Gedächtnis, nicht seine außergewöhnliche Erzählgabe, sondern seine Neugier ist seine erstaunlichste Eigenschaft. Rudi Schönwald ist ein großer Erzähler und Rezitator, aber auch ein erstaunlicher Zuhörer, der, wie Freuds Wunderblock, nichts vergessen kann. Unsere Gespräche endeten immer in Fragen. Er sei ein guter Menschenkenner, merkte ich irgendwann an. Nein, aber vielleicht ein guter Beobachter und Zuhörer, korrigiert er mich.

Jetzt aber hat sich doch noch etwas getan. Rudi Schönwald hat seine Lebensgeschichte (gemeinsam mit Erich Hackl) aufgeschrieben. Sie wird am 14. März unter dem Titel "Die Welt war ein Irrenhaus" im Zsolnay-Verlag erscheinen, dann dürfen wir alles nachlesen, und gewiss noch mehr.

Michael Rohrwasser, geboren 1949 in Freiburg, ist Literaturwissenschafter und em. Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien.

Wiener Zeitung, 19. Februar 2022