Fragmente einer Leidensgeschichte#
Die ersten Bände der neuen Ausgabe sämtlicher Werke Bachmanns zeigen die Autorin in einer schweren Lebenskrise.#
Von der Wiener Zeitung, freundlicherweise zur Verfügung gestellt. (Sonntag, 10. September 2017)
Von
Hermann Schlösser
Die private Katastrophe ereignete sich 1962: Der Schriftsteller Max Frisch (51) ersetzte die intellektuelle, berühmte, schwierige Schriftstellerfreundin Ingeborg Bachmann (36), mit der er vier Jahre zusammengelebt hatte, durch die heitere und vor allem junge Studentin Marianne Oellers (23). Während Frisch den Austausch der zwei Frauen kühl-korrekt erledigen wollte, war Bachmann zu einem pragmatischen Arrangement nicht imstande. Sie wurde krank, litt unter Panikattacken und Depressionen, unterzog sich langwierigen Therapien, verfiel der Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit. Nach allem, was über diese Geschichte bekannt ist, muss man annehmen, dass Frischs Verhalten Ingeborg Bachmanns seelische Verfassung nachhaltig beschädigt hat. Ob man zugleich unterstellen muss, dass dies in seiner Absicht lag, sei dahingestellt, auch wenn Ingeborg Bachmann selbst dies geglaubt zu haben scheint.
"zutodverwundet"#
Allerdings unterschied sich dieser Trennungskonflikt von vielen anderen seiner Art durch seine literarische Dimension. Das Selbstwertgefühl der damals hochberühmten Lyrikerin ist nämlich nicht nur von der jüngeren Konkurrentin verletzt worden, sondern mehr noch durch die Schauspielerin Lila, die eine Hauptrolle in Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" spielt. In dieser Kunstfigur erkannte Bachmann ihr Porträt, und sie war empört darüber, dass Frisch ihr Verhältnis sofort nach der Trennung in einem gut gemachten Bestseller verarbeitet hat. Bachmann warf diese Verletzung ihrer Privatsphäre nicht nur Frisch vor, sondern auch dessen Verleger Siegfried Unseld und letztlich dem gesamten Literaturbetrieb.
Zum völligen Verstummen der Autorin Ingeborg Bachmann kam es jedoch nicht. Selbst in Zeiten ihrer schwersten Depression schrieb sie. Es entstanden Traumprotokolle, in denen "M. F." häufig als Schreckensmann auftaucht, dann teils verzweifelte, teils zuversichtliche Briefe an ihren Arzt, den Psychiater Helmut Schulze. Eine größere literarische Ambition zeigt der Entwurf einer Rede, in der die kranke Autorin der Ärzteschaft erklären wollte, dass alle wohlmeinenden Behandlungsmethoden der Schulmedizin an ihr Leiden nicht heranreichen. Darin heißt es: "Das verwinde ich nicht, daß man mein Leben zerstört hat, weil man nicht begriffen hat, daß ich einer Räuberbande in die Hände gefallen bin, und man hat mir EKG gemacht und EEG und hundert Untersuchungen, aber niemand hat mich gefragt: was haben Sie denn, warum sind Sie so elend. Niemand. Und ich habe doch ausgesehen, ganz gewiß, wie ein zutodverwundetes Tier."
Dieser Text, der deutlich unter Beweis stellt, dass der Dichterin sehr schwer zu helfen war, wurde von ihr selbst nicht publiziert - so wenig wie die Traumprotokolle und Briefe. Die Krankheitstexte lagen in Ingeborg Bachmanns umfangreichem Nachlass und waren ursprünglich bis ins Jahr 2025 für die Öffentlichkeit gesperrt. Nun haben Heinz Bachmann und Isolde Moser, die Geschwister der Autorin, als rechtmäßige Erben die Erlaubnis zur Veröffentlichung gegeben, und die Texte sind heuer unter dem Titel "Male oscuro" erschienen. Das "dunkle Übel" wird hier auf Italienisch bezeichnet, weil sich die Wahlitalienerin Ingeborg Bachmann selbst auf einen 1964 erschienenen Roman dieses Titels bezog, in dem der Schriftsteller Giuseppe Berto die beklemmende Geschichte seiner Depression geschildert hat.
"Male Oscuro": Diese Dokumente einer schweren seelischen Erkrankung bilden den ersten Band einer auf ca. 30 Bände angelegten, wissenschaftlichen Ingeborg-Bachmann-Werkausgabe, die in den beiden Verlagen Bachmanns, Piper und Suhrkamp, sukzessive entstehen wird. Die Edition steht unter der Gesamtleitung von Hans Höller und Irene Fußl, und wird sämtliche veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften und Briefe Ingeborg Bachmanns in kommentierten Ausgaben enthalten.
Befremdlicher Anfang#
Die Erarbeitung der Edition wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen, sodass sich ihre Endgestalt noch nicht einmal in Umrissen zeigt. So viel lässt sich aber doch schon anmerken: Der Auftaktband dieser umfangreichsten Bachmann-Edition, die es je gab, ist befremdlich. Da stehen ein paar kurze Texte, die gewiss nicht zu den bedeutendsten der Autorin gehören, und eben deshalb kaum anders gelesen werden können denn als Hilfeschreie einer gedemütigten, verstörten, verzweifelten, kranken Frau.
Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni, die beiden Herausgeberinnen dieses Bandes, verwahren sich überzeugend gegen den nur zu naheliegenden Verdacht des literaturgeschichtlichen Voyeurismus. In einem sachkundigen Kommentar, der wesentlich umfangreicher ausgefallen ist als der Textteil, analysieren sie umsichtig Bachmanns Erkrankung, wichtiger ist ihnen jedoch der werkgeschichtliche Stellenwert der Texte: Wie die Herausgeberinnen zeigen, begann mit dem Zusammenbruch, der im "Male oscuro"-Band dokumentiert ist, für die Autorin eine keineswegs glückliche, aber doch sehr produktive Schaffensphase. Nach ihrem Erzählungsband "Das dreißigste Jahr" (1961) arbeitete sie bis zu ihrem tragischen Unfalltod im Jahr 1973 vorwiegend an einem umfangreichen Romanzyklus, den sie "Todesarten" nannte.
In diesem Werk, das nach dem Vorbild der Balzacschen "Comédie Humaine" als große Zeitdeutung angelegt war, aber Fragment blieb, wollte Bachmann an verschiedenen Fallbeispielen demonstrieren, dass das wahre Ziel der patriarchalisch geprägten Ehe und Familie in der Ermordung der Ehefrauen und Töchter bestehe. In "Malina", dem einzigen Roman der Serie, den sie vollenden konnte, fand sie für dieses mörderische Potential des Patriarchats eine suggestive, deshalb viel zitierte Formel. Sie brandmarkte die Gegenwartskultur als "Friedhof der ermordeten Töchter."
Die Keimzelle#
Die Keimzelle zu diesem ehrgeizigen "Todesarten"-Projekt sehen Schiffermüller und Pelloni in den "Male oscuro"-Notizen aus der Krankheitszeit. In ihnen sei, so meinen sie, alles angelegt, was sich später literarisch gewichtiger entfalten sollte. Diese "Übergängigkeit" aus der kurzen Notiz ins Romanwerk rechtfertige die Publikation der Texte.
Diese Erklärung ist einleuchtend, lässt aber eine kritische Frage dennoch nicht verstummen: Hätte man eine große Bachmann-Werkausgabe nicht doch besser anders begonnen? Zum Beispiel mit einem der beiden Lyrikbände, die seinerzeit Ingeborg Bachmanns Ruhm begründeten: "Die gestundete Zeit" (1953) oder "Anrufung des Großen Bären" (1956)? Verse wie "Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont" prägten sich immerhin dauerhaft ins Gedächtnis der Leserschaft ein. Und die literarischen Qualitäten wurden intensiviert durch die charismatische Erscheinung der österreichischen Dichterin, die bewundert wurde, als ob sie selbst ihr größtes Kunstwerk wäre: Elegant, auf eigene Weise attraktiv, virtuos changierend zwischen anmutiger Hilflosigkeit und intellektueller Präsenz.
Die Verlage und die Herausgeber haben noch keinen Editionsplan bekannt gemacht. Die ersten beiden Bände der Ausgabe richten das Augenmerk jedenfalls ganz und gar auf die leidende Autorin des letzten Lebensjahrzehnts und auf ihr fragmentarisches, von schweren psychischen Störungen gezeichnetes Werk.
Diese Fokussierung entspricht dem derzeitigen Hauptinteresse der Ingeborg-Bachmann-Philologie, die feministisch geprägt ist und dem "Todesarten"-Zyklus grundlegende Fragestellungen verdankt. Dabei geht es nicht nur um den Opferstatus der Frau, sondern auch um eine spezifisch weibliche Autorschaft, die sich, so die Theorie, nicht in einem abgeschlossenen, dauerhaft gültigen Werk artikuliere, sondern in vielfach gebrochenen Formen, die keinen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Äußerung kennen, und die kaum mit Maßstäben wie "gelungen" oder "unfertig" zu beurteilen sind.
Im Lichte dieser Theorie erklärt sich auch die Auswahl des zweiten Bands der Edition. Dieses "Buch Goldmann" ist nicht identisch mit dem Text, der seit langem unter dem Titel "Requiem für Fanny Goldmann" bekannt ist. Das "Buch Goldmann" - der Titel stammt von Bachmann - enthält sehr viel mehr Entwürfe und Varianten als das "Requiem". In unterschiedlichen Anläufen wird das Schicksal der Wiener Schauspielerin Fanny Goldmann, "einer Frau mit Haltung und schönen Schultern", beschrieben. Viele Passagen sind weit gediehen und zeigen eine gewandte, gar nicht besonders experimentelle Erzählerin. Andere Teile sind Rohfassungen, sodass das Buch im Ganzen keinen einheitlichen Ton und schon gar keinen "roten Faden" findet. Der Kommentar von Marie Luise Wandruszka erweist sich als verlässlicher Führer durch das Labyrinth der Entwürfe.
Die größte Tragödie#
Klar ist, dass diese Fanny Goldmann eine "Geschädigte" ist, wie es im Text heißt. Als Tochter aus gutem Haus kommt sie mit der Nachkriegsgesellschaft in Wien und anderswo nicht zurecht. Die größte Tragödie ihres Lebens besteht jedoch darin, dass sie sich in den so mediokren wie erfolgreichen Schriftsteller Toni Marek verliebt, der sie mit einer jüngeren Frau betrügt, und überdies Fannys Liebe in einem viel gelesenen Roman "ausschlachtet". Neben Fanny geistert noch eine Journalistin durch die Textvarianten, die einmal Eka Kottwitz, ein andermal Aga Rottwitz genannt wird. Sie erlebt dieselbe leidvolle Geschichte. Ihr Missbraucher heißt Kuhn bzw. Jung.
Dass man Kunstfiguren nicht mit ihren Erfindern gleichsetzen darf, gehört zu den Grundgesetzen der Literaturwissenschaft. Aber wer im ersten Band einer Werkausgabe mit der "Übergängigkeit" von Texten bekannt gemacht wurde, kann im zweiten Band nicht übersehen, dass Ingeborg Bachmann ihr eigenes Trauma auf ihre Kunstfiguren übertragen hat. Das Buch enthält scharfe zeithistorische Beobachtungen, subtile Ironien und poetische Formulierungen in Fülle - aber der gänzlich unsublimierte Schmerz der tief gekränkten Autorin überschattet alles andere. Man wird sehen, ob der dritte Band der Ausgabe auch dieser Leidensspur folgt, oder ob er Ingeborg Bachmann einmal als die glanzvolle, starke Dichterin vorstellt, die sie in jungen Jahren war und vielleicht auch gern geblieben wäre.
Information#
Werke und Briefe#
Salzburger Bachmann Edition, herausgegeben von Hans Höller und Irene Fußl. Piper Verlag München / Suhrkamp Verlag Berlin.2017 sind die ersten beiden Bände erschienen:
"Male oscuro"#
Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Herausgegeben von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni. 255 Seiten, 35,- Euro.Das Buch Goldmann#
Herausgegeben von Marie Luise Wandruszka. 457 Seiten, 37,10 Euro.