Albtraumhafte Anstalt als Ekel-Setting #
Den Lesern verlangt der mehr als tausend Seiten umfassende Roman von Clemens J. Setz einiges ab. Auf der ORF Bestenliste wird „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ des jungen Autors auch im November als eine von zehn empfehlenswerten Buch-Novitäten angeführt. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: DIE FURCHE (Donnerstag, 5. November 2015)
Von
Evelyne Polt-Heinzl
„Als Beruf Obertonsänger und Gelegenheitszauberer anzugeben, macht aus einem ehemaligen Studenten der Mathematik und Germanistik schon einen als freier Schriftsteller Lebenden.“ Das schrieb vor kurzem der um 33 Jahre ältere Gerhard Jaschke über Clemens Setz. Die Formulierung enthält ein Gran Generationsneid auf den jungen Schnellstarter, der freilich auch in seiner Altersklasse zu den Ausnahmen zählt. Wer erinnert sich schon noch daran, dass Setz mit seinem Debüt „Söhne und Planeten“ 2007 zeitgleich mit dem feinsinnigen, aber ungleich zurückhaltenderen Erzähler Bernhard Strobel gestartet ist?
Setz ist jedenfalls mit seinem neuen Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ zum dritten Mal auf der verkaufsfördernden Longlist des deutschen Buchpreises gelandet. Diesmal war hier allerdings Schluss, vielleicht auch, weil das Buch den Lesern einiges abverlangt, etwa die Bereitschaft, die Ekelgrenzen drastisch zu senken, nicht allzu sehr auf Sinnfragen zu beharren und beträchtliche Lebenszeit in die mehr als tausend eng bedruckten Seiten zu investieren.
Dabei ist der Roman überraschend konventionell strukturiert. Es gibt eine Perspektivfigur, entlang der wir die Ereignisse ordentlich chronologisch erzählt bekommen. Keine erzähltechnischen Spielereien oder kompositorischen Risiken wie in „Indigo“ (2012), keine Uneindeutigkeiten – bzw. nur solche, die sich aus der eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit der Figur ergeben. Das ist allerdings keine zu vernachlässigende Einschränkung, denn die Behindertenbetreuerin Natalie Reinegger ist mit einiger Regelmäßigkeit medikamentös zugedröhnt, als wollte der Roman das Vorurteil belegen, dass Menschen, die soziale Berufe ergreifen, das primär zur Stabilisierung des eigenen Ego tun und wegen des erleichterten Medikamentenzugangs, was die Grenze zwischen betreuenden und betreuten Subjekten in einer Richtung gefährlich durchlässig hält.
Sektenmilieu und „Streunereien“ #
Die Handlung ist rasch erzählt. Natalie ist 21 und war in ihrer Kindheit Epileptikerin. Das hat ein Erwachsenwerden nicht gerade erleichtert, aber nun hat sie nach turbulenten Ausbrüchen unter anderem in ein Sektenmilieu eine einjährige Ausbildung und den Einstieg ins Berufsleben geschafft. Sie arbeitet in der Villa Koselbruch, einem Pfl egeheim für sehr wohlhabende Behinderte, wo jede Betreuerin nur für einige Klienten zuständig ist. In Nataliens Fall sind das zwei Herren; einer davon ist der im Rollstuhl sitzende frauenhassende Homosexuelle und ehemalige Stalker Dorm. Sein einstiges Opfer, Doktor Hollberg, dessen Frau Dorm damals vor vier Jahren in den Selbstmord getrieben haben soll, besucht ihn regelmäßig. Es ist ein perverses Abhängigkeitsverhältnis von Seiten Dorms und ein noch viel perverseres Langzeit-Racheprojekt von Seiten des eloquenten Herrn Doktor. Das Sadomasochistische dieses „Arrangements“, so die wohnheiminterne Sprachregelung dafür, ist Natalie rasch klar, und das Setting überfordert sie radikal. Das hat auch mit ihrem Privatleben zu tun. Ihren Freund Markus hat sie gerade abserviert – wiewohl sie in Notfällen immer noch auf seine Dienste rekurriert so wie auf jene ihrer Eltern. Ansonsten unterhält sie sich mit nächtlichen „Streunereien“. Was sie darunter versteht, wollte man so genau gar nicht wissen, wie man es beschrieben bekommt. Es hat mit anonymen Sexualkontakten von großer Frequenz und mit multiplem Einsatz diverser Körpersäfte zu tun. Außerdem frequentiert sie Franks „Souterrain“, eine Art Jugendtreff, wo sie eines Tages Mario kennen lernt, in den sie sich eher einseitig verliebt.
Chatten als Errungenschaft #
Natalie gehört einer Generation an, die mit Öko-Themen aufgewachsen ist, aber keinen Gedanken an soziale Fragen verschwendet; als Digital Native ist sie hingegen nur bedingt repräsentativ. Zwar sind iPhone und PC stets in Griffweite, aber wenn sie „chattet“, tut sie das ausschließlich mit ihrem Exfreund oder mit Frank. Daraus werden – trotz mitgelieferter Theorie über die zivilisatorische Errungenschaft des Chats – eher vorgeblich ins Schriftliche transponierte Dialoge. Selbst in den besten Sequenzen wirkt die wilde Sprunghaftigkeit, die Natalie zu perfekten Nonsensplaudereien hochzustilisieren versucht, konstruiert bis kindlich harmlos. Freilich sind manche Running Gags lustig, aber on the long run dann oft doch nicht lustig genug. Und freilich sprudelt Setz vor Einfällen über, aber sie werden häufi g ein wenig zu breit getreten. Nataliens Gedankeneskapaden nehmen gern von Wörtern ihren Ausgang – was durchaus beachtenswert ist, denn als Leserin kann sie konzentrationsmäßig schon an Wikipedia- Einträgen scheitern. Sie ordnet Wörtern Farben und spontane Assoziationen zu. Dass die Amphibienart der „Molche“ mit diesem Namen eine genaue Vorstellung des zugehörigen „Habitats“ auslöst, ist ein schönes Bild, das ausgewalzt an Poesie gleich wieder verliert.
Am meisten berührt die soziale Isolation dieser jungen Frau, in der sie sich mit verschiedensten Mitteln einzurichten versucht. Sie übt sich in infantilen Spielereien wie Paare-Trennen auf belebten Straßen, hört mit Vorliebe einen Aufnahmenmix aus eigenen Essgeräuschen und den akustischen Entladungen ihrer Streuner-Männer, errichtet mühsam Zäune aus künstlichen Alltagsritualen und sei es das Studium von Anzeigen vermisster Tiere oder die Einschlafphantasie, inkognito ein nächtliches Straßenreinigungsfahrzeug zu lenken. Vor allem aber wähnt sie sich via Konsum von Markenprodukten, Live-Sendungen – das live wörtlich interpretierend – und Bestsellern mit der Welt zu verbinden. Denn diese Dinge seien „weltumspannend“ und helfen ihr „innerlich bronzener und krümeliger und pols terbezughafter“ zu werden. Ihr Lieblingsautor ist Stephan King – andere Horrorautoren machen ihr hingegen „kein geborgenes Gefühl“ –, und von daher kommt vielleicht ihr erschreckender Hang zu Gewaltphantasien ebenso wie jener zur Paranoia, wobei sie damit schlussendlich nicht in allen Punkten falsch liegt.
Unbeschadet überblättern #
Als gewiefter Erzählter baut Setz manches Signal ein, das sich als ironische Distanzierung von seiner Figur interpretieren lässt, etwa wenn sich Natalie, deren Name direkt aus der Weimarer Klassik zu kommen scheint, über den „altmodischen“ Namen Marcel lustig macht. Er gehört einem der Zivildiener im Wohnheim, die zwar nur für kurze Zeit hier andocken, aber kaum weniger durchgeknallt scheinen wie die Berufs-Betreuerinnen. In den Roman eingestreut fi nden sich unter der Überschrift „Betreuerinnengespräche“ immer wieder Horrorgeschichten über das Leiden und Sterben von Klienten, die wohl die Political Correctness- Formeln mit dem Pfl ege- Alltag zum Clash bringen sollen. Natalie fi ndet diese intimen Berichte jedenfalls „volle gut“, wie die vielen „,hihihi‘, kicherte Natalie“-Einsprengsel zeigen. Wer diese Art Humor nicht so schätzt, kann die Abschnitte unbeschadet überblättern – und ohne Risiko, originellere Bilder zu versäumen, etwa den Nussbaum, „der so aussah, als wäre ihm seine Brille ins Gras gefallen“.
Nicht verwunderlich ist der Epilog, der Natalie wieder in den Armen einer Sekte landen lässt. Insofern enthält der Roman vielleicht eine Refl exion zum Phänomen der freiwilligen IS-Kämpfer aus den zivilisierten Kontexten Mitteleuropas. Die Säkularisierung ließ eine existenzielle Lücke zurück, wo einst verbindliche Alltagsrituale den Lebensrhythmus strukturierten. Solche Markierungen zu schaffen und in ihrer Gültigkeit zu defi nieren ist eine nunmehr tagtäglich und ohne Rückendeckung individuell zu bewältigende Aufgabe, die nicht nur Spätpubertierende wie Natalie überfordert.
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre Roman von Clemens J. Setz Suhrkamp 2015. 1021 S., geb., €30,80