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Wenn die Kühe wispern #

Dem österreichischen Schriftsteller Erich Hackl gelingt mit seinem Buch über die Welt der Mutter ein biographisches und poetisches Meisterstück. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 21./22. Dezember 2013)

Von

Andreas Wirthensohn


Erich Hackl
Erich Hackl.
Foto: © Pedro Timón Solinís

Henriette sollte das Mädchen heißen, hatte die Mutter, die noch im Wochenbett lag, dem Vater eingeschärft, als der sich mit seiner Tochter in den Nachbarort aufmachte zur Taufe. Doch zuvor kehrte er mit seinem Bruder, der als Pate fungieren sollte, im Wirtshaus ein. Als die beiden dann endlich durchs Kirchentor wankten, war der Pfarrer heilfroh, dass keiner die Kleine fallen ließ. Auf seine Frage, wie das Mädchen denn heißen solle, blickten sich Vater und Pate ratlos an. Da fing der Täufling zu schreien an, der Vater sah sich hektisch im Kirchenschiff um, bis sein Blick an der Muttergottes mit dem Kind hängen blieb. „‹Maria›, sagte er mit rauher Stimme, fragend zuerst, dann bestimmt. ‹Maria!›“

Auf diese Weise kam die Mutter des Schriftstellers Erich Hackl zu ihrem Namen, „dem falschen“. Als sie dem Sohn diese Geschichte später erzählte, war sie noch immer entrüstet über das Verhalten des eigenen Vaters. Und nun erzählt uns der Sohn ihre Geschichte – in ihren Worten.

Erich Hackl hat das Genre der dokumentarischen Literatur zu neuem Leben erweckt und ihm eine ganz eigene Richtung gegeben. Seit seinem Debüt „Auroras Anlass“ (1987) betätigt er sich als literarischer Chronist derjenigen, die keine Stimme haben. Seine Texte tragen Gattungsbezeichnungen wie „Eine Begebenheit“, „Erzählung nach dem Leben“ oder „Erzählung aus unserer Mitte“. Sie alle eint das Bestreben, die Lebensgeschichten real existierender Menschen zu erzählen. Hackls Vorstellung von Authentizität erlaubt erzählerische Mittel und so manche Fiktionalisierung, wodurch die spröde Kargheit des Dokumentarischen aufgesprengt wird und die Schilderung an Intensität gewinnt. Sein neues Buch erklimmt in dieser Hinsicht neue Höhen.

„Soweit ich zurückdenken kann, hat meine Mutter von der Welt ihrer Kindheit und Jugend erzählt“, schreibt Hackl im Nachwort. „Ich bin nun, nach ihrem Tod, darangegangen, mich der früheren Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen und deshalb gehört dieses Buch meiner Mutter.“

Die Kindheit und Jugend der in den 1920er Jahren Geborenen spielte sich in einem Dorf im Unteren Mühlviertel ab und war geprägt von der Zeit des Austrofaschismus, dem „Anschluss“, dem Krieg und der Besatzung durch die Rote Armee. Daneben war es natürlich auch die Zeit der Schule, der Freundschaften, des bäuerlichen Lebens und der Träume: „Mannsbilder, Weiberleute und Kinder, / erfüllt von Fleiß, Gehorsam, Gottesfurcht / und einem großen Durst nach Geselligkeit. // Immer in der Schwebe / zwischen Argwohn und Leichtsinn. // Zu erschöpft, / sich die Gegenwart vorzustellen. // Solche wie ich.“

Es sind Geschichten, Anekdoten, Erinnerungssplitter, die hier im „Erzählmodus“ der Mutter präsentiert werden: „unmittelbar, deutungslos, offen.“ Die auf den ersten Blick einfache Sprache erweist sich schon bald als kunstvolle Poesie, als kraftvolle rhythmisierte Prosa, dargeboten in einer Mischform aus Vers und mündlichem Duktus. Dar aus entstehen wundervolle Miniaturen: „In der Christnacht redet das Vieh. / Das war so gewiß wie das Amen im Gebet. / Einmal schlich ich um Mitternacht, / meine Geschwister waren in der Mette, / die Mutter rumorte noch in der Küche, / im Nachthemd hinaus in den Stall. / Als ich die Tür leise aufschob, / hörte ich sie wispern, die Kühe. / Ein Kalb sang sogar, aber falsch.“

Höchst eindrückliche Passagen zeitigt diese Stilform, wo es um die Zeit des Nationalsozialismus geht. Hier äußert sich zudem eine der Freiheiten des Autors, nämlich seiner Mutter „mein Gewissen anzudichten“. Man kann das für problematisch halten. Nichtsdestotrotz ist Erich Hackl wieder ein biographisches Meisterstück und zudem ein famoser Beitrag zum Genre „Heimatliteratur“ gelungen.

Erich Hackl. Dieses Buch gehört meiner Mutter Diogenes, Zürich 2013, 116 Seiten, 18,40 Euro.

Wiener Zeitung, Sa./So., 21./22. Dezember 2013


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