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Die Naturgesetze und der Keim des Leids #

Vor 300 Jahren starb mit Gottfried Wilhelm Leibniz einer der letzten Universalgelehrten. Mit seiner „Theodizee“ suchte er nach einer Versöhnung von Vernunft und Glauben. Ist es möglich, auch heute noch an seine Überlegungen anzuschließen? Ein Erklärungsversuch. #


Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 1. September 2016)

Von

Georg Mandl


Gottfried Wilhelm Leibniz
Gottfried Wilhelm Leibniz
Foto: © Historisches Museum Hannover

„Unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten“, die Gott hervorbringen konnte, behauptete Gottfried Wilhelm Leibniz vor mehr als 300 Jahren. Und er wollte damit ein altes Problem lösen, das er „Theodizee“ nannte, also die „Rechtfertigung Gottes“ angesichts der schrecklichen Leiden fühlender Geschöpfe in seiner Welt. Gemeint ist das natürliche Übel und Leid – das „malum naturale“ –, das den Menschen ohne sein Zutun aus der Natur trifft: in Naturkatastrophen, Krankheiten, Missbildungen und dergleichen, oder auch als Reaktion der Natur auf menschliche Eingriffe. Gelang Leibnitz diese Rechtfertigung? Ist sie überhaupt möglich? Nein, sagen Theologen und Philosophen unisono. Ja, sage ich als Physiker und Christ und versuche, dies hier zu begründen.

Staunen über „Feinabstimmung“ #

Was bewog Leibniz zur Behauptung von der „besten aller Welten“? Es war die Physik seiner Zeit, deren Entdeckungen ihn begeisterten und ihn im Glauben bestärkten, dass unsere Welt auf einer Ordnungsstruktur ruht, die unserer Vernunft zugänglich ist, und sich in mathematischer Sprache erfassen lasst, zu der er selbst auch wesentlich beigetragen hat. Wie aber mag man Leibniz‘ Theorem aus heutiger Weltsicht erfassen? Dazu ein Blick auf eine Eigenartigkeit physikalischer Gesetze: Diese enthalten sogenannte Naturkonstanten, also von Raum und Zeit unabhängige Größen wie die Gravitationskonstante, die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum, die elektrische Elementarladung, die Massen von Elektron und Proton. Deren Werte sind durch keine Theorie bestimmt, sondern nur durch Messung ermittelt. Was die Kräfte zwischen den materiellen Dingen betrifft, lassen sich diese auf vier „Fundamentalkräfte“ zurückführen: die elektromagnetische Kraft, die Gravitation, die starke und die schwache Kernkraft.

Warum diese physikalischen Objekte konstante Werte und Größenverhältnisse haben, weiß man nicht. Aber es gibt überzeugende Hinweise, dass eine geringe Änderung dieser Werte die kosmische Entwicklung so radikal ändern würde, dass Leben, wie wir es kennen, nicht entstanden wäre. Dieser Sachverhalt wird auch „Feinabstimmung“ oder „anthropisches Prinzip“ genannt.

So ist etwa die Gravitationskraft um 40 Zehnerpotenzen schwächer ist als die elektromagnetische Kraft. Der australische Physiker Brandon Carter hat gezeigt, wie entscheidend dieses unglaubliche Kräfteverhältnis für die Entstehung von organischem Leben ist. Dies setzt voraus, dass reichlich Kohlenstoff vorhanden ist. Kohlenstoff und andere schwere Elemente werden im Inneren sehr massereicher Sterne erzeugt und durch Supernova-Explosionen in den Raum geschleudert. Dieser Sternenstaub wird in neue Sterne und schließlich auch Planeten eingeschlossen, die aus kleineren Sternen entstehen. Die Entstehung eines lebensfreundlichen, also kohlenstoffreichen Planeten wie der Erde setzt also die gemeinsame Existenz beider Sterntypen voraus. Carter hat entdeckt, dass beide Sternarten nur zugleich existieren, wenn das Verhältnis von elektromagnetischer Kraft und Gravitationskraft sehr nahe dem tatsächlich gemessenen ist. Im Staunen über die „Feinabstimmungen“, die erst die Entstehung von Leben möglich machen, könnte man unsere Welt sofort als die beste aller möglichen Welten sehen. Wäre da nicht noch die bedrückende Erfahrung vom Übel und furchtbarem Leid, das Mensch und Tier treffen kann. Woher kommt dieses Leid?

Unser Weltbild ist geprägt von der Evolution von Kosmos und Leben. Im Vergleich zur Entwicklungsdynamik des unbelebten Kosmos mit seinen Milliarden von Galaxien und Sternen entwickelt sich die Lebenswelt mit verschwindendem Aufwand an Energie und Masse, aber mit unvorstellbarer Kreativität. Immer neue Lebensformen entwickeln sich ganz ohne wahrnehmbare Eingriffe von außen. Diese Entwicklung zeigt eine Tendenz zu zunehmender Komplexität, aber keinen detaillierten Entwicklungsplan. Faktisch verläuft die Evolution der Lebenswelt in Irrungen und Wirrungen, mit Pannen und Rückschlägen. Kurz gesagt: Die Lebenswelt entwickelt sich durch Versuch und Irrtum.

Spiel des Zufalls #

Woher rührt diese Regellosigkeit? Offensichtlich vom Spiel des Zufalls: Dem „Versuch und Irrtum“ verdankt unsere Lebenswelt ihre unerschöpfliche Fülle. Die „Feinabstimmung“ des naturgesetzlichen Rahmens lässt unsere Welt als die beste der evolutiv möglichen Welten erscheinen. Der Zufall als Motor der Evolution lässt sie sogar als die einzige zum Menschen führende sehen. Mit dem Neuen an Lebewesen schafft der Zufall aber auch Irrungen und Konflikte in der Entwicklung, organische Schwachstellen, Krankheiten, Bedrohungen, „Fressen und gefressen werden“ – kurzum ist er auch die Ursache des Leidens in der Natur. Natürliches Leid und Sterblichkeit sind also nicht der „Lohn der Sünde“ eines ersten Menschenpaares in paradiesisch heiler Umwelt, sondern von Urbeginn an der materiellen Welt mit dem Zufall gegeben.

Zufall meint hier die Nichtvorhersagbarkeit eines Ereignisses. Jeder von uns hat schon überraschende Ereignisse erlebt, die unmöglich vorauszusehen waren. Was aber für den einen Zufall ist, wäre vielleicht für einen besser informierten Beobachter vorauszusagen gewesen. Dieser „Zufall“ ist also Folge eines begrenzten Erkenntnisvermögens. So sah dies der heilige Thomas von Aquin, der zur Ansicht kam, dass es für Gott keinen Zufall gibt. Auch Einstein sagte: „Der Alte würfelt nicht!“ Sie hätten recht, wenn es nicht im 20. Jahrhundert die Quantenmechanik und die Physik nicht-linearer Systeme gäbe. In deren Prozessen ereignet sich Zufall, der absolut nicht vorhersagbar ist, wie der Zeitpunkt des Zerfalls eines einzelnen Uran-Atoms. Dies ist ein objektiver, dem materiellen Ding innewohnender Zufall. Wohl die Mehrheit der Prozesse in der Natur ist geprägt von nicht-linearen Systemen. Warum ist Nicht-Linearität hier so wichtig?

In linearen physikalischen Systemen ist die Wirkung proportional ihrer Ursache. Erhöht man etwa die elektrische Spannungsdifferenz um zwei Prozent, so erhöht sich die Stärke des elektrischen Stromes um dieselben zwei Prozent. Im Falle mehrerer Ursachen erzeugt jede ihre Wirkung unabhängig von den anderen. Zufall im Prozessverlauf ist damit absolut ausgeschlossen. Ganz anders nicht-lineare Systeme: Bei ihnen gibt es die Wahl zwischen mehreren Wegen des Prozessverlaufes. Und diese Wahl entscheidet meist der Zufall.

Nicht-lineare Prozesse #

Lebewesen sind komplexe Systeme, die aus einer Vielzahl nichtlinearer Prozesse bestehen. Als lebende Systeme sind sie offen zur Umgebung. Ihre innere Struktur wird durch die Umgebung in Balance gehalten. Diese innere Stabilität kann aber durch veränderte Umweltbedingungen verloren gehen. Kleinste innere Störfaktoren genügen, um das System aus dem stabilen Zustand zu stoßen. Sodann strebt das System nach neuer Stabilität, wobei zwei oder mehrere Prozessverläufe möglich sind. Welcher Weg dabei verwirklicht wird, entscheidet der Zufall. Dies kann von strukturellen Änderungen begleitet sein: Viele davon mögen für das Lebewesen kaum bemerkbar sein, andere sind von Vor- oder Nachteil, manche aber bringen Leid und Tod. Man denke an die mögliche Rolle des Zufalls bei der Entstehung von Krankheiten wie Krebs, der Entstehung von Behinderungen et cetera.

Insofern ist der Mensch anfällig für den absoluten Zufall in seinem Inneren. Er trägt den Keim des Leids naturgesetzlich in sich. Auch wenn vielleicht eine weniger verschlungene Entwicklung zum Menschen denkbar wäre, würde dies nichts an der Nicht-Linearität der Prozesse im Menschen ändern. Seine Komplexität bleibt, und damit sein Leidenspotential. Leibniz hat also darin recht, das „natürliche Übel“ als unvermeidliche Konsequenz der Dynamik zu sehen, die in einer zum Menschen führenden Welt gegeben ist.

DIE FURCHE, Donnerstag, 1. September 2016

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