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unbekannter Gast

Die Covidisierung der Forschung #

Die Pandemie hat in Österreichs Wissenschaft zur Verwaisung von Disziplinen und einem nicht zu verantwortenden Aderlass geführt. Auch nach dem Abklingen des Corona-Albtraums werden Universitäten nie mehr das sein, was sie einmal waren. Ein Gastkommentar. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (8. April 2021)

Von

Georg Wick


Corona & Forschung „Während einer Pandemie muss natürlich direkt krankheitsrelevante Forschung forciert werden – aber nicht auf Kosten anderer Disziplinen“, meint Ex-FWF-Präsident Georg Wick
Corona & Forschung. „Während einer Pandemie muss natürlich direkt krankheitsrelevante Forschung forciert werden – aber nicht auf Kosten anderer Disziplinen“, meint Ex-FWF-Präsident Georg Wick.
Foto: https://pixabay.com

In den letzten Monaten gab es die größte Explosion von Veröffentlichungen seit der Existenz der wissenschaftlichen Literatur – aber leider gespickt mit unkontrollierten Fake News und der Dominanz eines alles überragenden Themas: Covid-19, mit 135.000 bibliometrischen Einträgen in nur einem Jahr(!). Zahlreiche dieser Arbeiten kommen jetzt plötzlich aus China. Neben ausgezeichneten Publikationen haben sich in zu vielen Journalen nun auch oft triviale Arbeiten in die Fachliteratur eingeschlichen. Dazu zählen etwa simple, nicht besonders interessante medizinische Fallbeschreibungen, die es früher nie auf diese prominenten Seiten geschafft hätten. China selbst ist also, wie in der Weltpolitik und der Wirtschaft, auch der größte wissenschaftliche Nutznießer dieser Katastrophe.

Eine gefährliche Begleiterscheinung der Corona-Pandemie ist die Vernachlässigung der Erforschung anderer lebensbedrohlicher Erkrankungen. Die Tatsache, dass weltweit 250 Millionen Menschen an den wichtigsten Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose, Aids oder Chikungunya leiden und davon jährlich 2,5 Millionen sterben, ist letztes Jahr ganz in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung getreten. In manchen Ländern Afrikas ist die Müttersterblichkeit 2020 um über 80 Prozent angestiegen! Das Gleiche gilt für die Verzögerung des Einsatzes der modernen retroviralen Therapie bei Patienten mit Aids. Das Bewusstsein, dass eine weltweite, gemeinsame Anstrengung das Verständnis für eine pandemischen Erkrankung und deren Management in so kurzer Zeit ermöglicht hat, könnte künftig aber auch für Wissenschafter auf vielen anderen Gebieten ein hoffnungsvolles Signal sein.

Eine besorgniserregende Entwicklung im Rahmen dieser „Covidisierung“ ist die Tatsache, dass es zu einer „Triage“ von Forschungsprojekten kommt, die zur Förderung bei diversen Finanzierungsorganisationen eingereicht werden. Eine derartige Triage erleben wir in Österreich – von der Öffentlichkeit leider unbemerkt – schon seit Langem auf allen Gebieten der technischen, Human- und Naturwissenschaften. Die Corona- Pandemie hat diese für ein Land mit wenigen natürlichen Ressourcen deletäre Situation aber noch weiter verstärkt. Der österreichische Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) ist seit Jahrzehnten chronisch unterdotiert, vor allem wenn man die öffentlichen Ausgaben für die Förderung der wertfreien, aber anwendungsoffenen Grundlagenforschung mit jenen unserer nächsten wissenschaftlichen Konkurrenten vergleicht: Während der heimische Steuerzahler 27 Euro pro Jahr für Grundlagenforschung berappt, sind es in Deutschland 40 und in der Schweiz 111 Euro – ganz zu schweigen von den hierzulande fehlenden großen einschlägigen Institutionen, wie etwa den deutschen Max-Planck-Instituten.

Die geringe Dotierung des FWF hat zur Folge, dass nur circa ein Viertel der eingereichten Anträge – und diese nur mit Budget- kürzungen – gefördert werden kann. Ein weiteres Viertel wurde zwar von den ausschließlich im Ausland rekrutierten Gutachtern als „sehr gut“ beurteilt, kann aber wegen des finanziellen Engpasses nicht unterstützt werden. Es gibt für „hungrige“ junge Wissenschafter nichts Frustrierenderes als dieses Urteil: „zur Förderung empfohlen, aber nicht finanzierbar“ (in den immer in Englisch verfassten Gutachten: approved but not funded). Daher ist es kein Wunder, dass sich viele dieser enttäuschten Antragsteller von der Grundlagenforschung abwenden oder ihr Glück im Ausland versuchen – ein nicht zu verantwortender Aderlass auf allen Gebieten!

Frustrierte Jungforscher #

Was hat das mit der Covidisierung zu tun? Viel! Während nämlich die angewandte Covid-19-Forschung in Österreich mit plötzlich wundersam vorhandenen Millionen gefördert wurde, stagnierte das Budget des FWF weiterhin auf diesem ohnehin schon beklagenswerten Niveau – mit den oben erwähnten Folgen. Die Kosten für positiv bewertete Covid-19-Projekte mussten daher aus dem bereits vorhandenen Budget geschöpft werden. Die einzige Notmaßnahme des FWF, die diese Situation erleichtert hat, war die Etablierung eines beschleunigten Begutachtungsverfahrens für Covid- 19-Projekte. Die so als „exzellent“ beurteilten und daher finanzierten Projekte gehen nun – bei gleichbleibendem Gesamtbudget – natürlich finanziell auch zulasten anderer Disziplinen.

Inzwischen wurden in Österreich aber tatsächlich bereits einige aufsehenerregende Entdeckungen auf verschiedensten Gebieten der Covid-19-Forschung gemacht: wunderbar, aber nur ein geringer Trost für alle Approved but not funded-Kandidaten. Das dramatische Szenario einer Covidisierung der Forschung betrifft die ganze Welt. Dazu kommt noch der coronabedingte Lockdown der Universitäten und extra-universitären Forschungsinstitutionen, mit nicht wiedergutzumachenden Versäumnissen und Schäden bei laufenden und geplanten Forschungsprojekten.

Trotz der Kontaktmöglichkeiten über das Internet können Vorlesungen, Diskussionen oder Kongresse in Form von „Webinars“ die wichtigen persönlichen Kontakte nicht ersetzen. Ganz zu schweigen von der Stornierung von archäologischen oder biologischen Feldforschungen, der Verhinderung eines Malariaprojektes im brasilianischen Regenwald, dem Verfall von reservierten Beobachtungszeiten in großen Teleskopen, der Betreuung genetisch modifizierter Versuchstierstämme, dem Besuch von fernab lokalisierten Bibliotheken etc. – und natürlich vom Einfrieren geplanter Leuchtturmprojekte wie Exzellenzinitiativen, wiederum mit Ausnahme der gesteigerten Investitionen in China, aber erstaunlicherweise auch im Vereinigten Königreich. Für diese Facetten der Covidisierung waren oft nicht nur die Einschränkungen der Reisefreiheit verantwortlich, sondern – vor allem in Schwellenländern wie Brasilien oder Indien – auch der nicht überall etablierte Zugang zum Internet während der häuslichen Quarantäne.

Abtrünnige Wissenschafter #

Dazu kommen noch spezielle Probleme im Rahmen von geförderten Covid-19-Projekten: Man hat den Eindruck, dass hier unter großem Zeitdruck und damit auch oft unter Vernachlässigung von Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis gearbeitet wird. Wo sind die Zeiten der Muße für intensives Nachdenken über laufende Arbeiten, die ausführlichen Diskussionen mit Mitarbeitern und das Träumen von den nächsten Schritten des wissenschaftlichen Weges? Das gilt zum Beispiel in Bezug auf exakt zu kontrollierende klinische Studien. Außerdem fühlen sich jetzt viele Wissenschafter aus den verschiedensten Disziplinen zu Covid-19-Forschern berufen, oft nur, um an den sich öffnenden neuen Geldquellen zu partizipieren. Nach dem Abklingen der Covidisierung werden viele dieser „Abtrünnigen“ nicht mehr in ihre angestammten Disziplinen zurückkehren können. Für eine echte, stimulierende „Brain Circulation“ reicht es in den meisten dieser Fällen dann nämlich nicht mehr.

In dieser Phase verwaisen offensichtlich zahlreiche andere Forschungsgebiete, selbst wenn sie auf Umwegen auch für das Verständnis und die Bekämpfung der Pandemie wichtig gewesen wären, wie auf dem Sektor der Pädagogik oder Linguistik. Die Grundlagenforschung lebt von der Neugier, dem Erwerb von nicht sofort praktisch verwertbarem Wissen und der freien Wahl des Forschungsthemas – und nicht allein von einem durch Aktualität getriebenen Opportunismus. Wissenschaftliche Kurzsichtigkeit ist zu Zeiten einer Pandemie ein schlechter Ratgeber für die Strategie einer Forschungspolitik. Wissenschaft muss permanent durch Entdeckerfreude und Leidenschaft und nicht nur durch tagesaktuelle Vorgaben getrieben werden. Natürlich muss während einer Pandemie direkt krankheitsrelevante Forschung forciert werden – aber nicht auf Kosten anderer Disziplinen. Denn „Wissen an sich“ ist unser kostbarstes Gut!

Der Autor ist em. o. Univ.-Prof. für Pathophysiologie und Immunologie an der Medizinischen Univ. Innsbruck und war von 2003 bis 2005 Präsident des FWF.

Die Furche, 8. April 2021