Der Stradivari-Code #
Instrumentenbau-Schüler aus Hallstatt könnten das Konstruktionsprinzip der Stradivari-Geige entschlüsselt haben. #
Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 28. Jänner 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Iris Mostegel
Es ist eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch: In einer Fachschule für Instrumentenbau im malerischen Salzkammergut vertieft sich eine Gruppe an Schülerinnen und Schülern in historische Geigenbaudokumente. Nach welchem Konstruktionsprinzip haben Antonio Stradivari (ca. 1644 bis 1737) und die anderen großen Geigenbaumeister aus dem norditalienischen Cremona ihre legendären Streichinstrumente gebaut?
So lautet die Aufgabenstellung der Projektarbeit. Eigentlich verwegen. Immerhin hat sich an genau dieser Frage die Wissenschaft in den vergangenen 250 Jahren die Zähne ausgebissen. Zwar gelang es, die alten Meistergeigen baulich zu imitieren, aber unklar blieben die Methodik und die verwendete Maßeinheit – mit dem Tod Stradivaris war das Wissen mit ins Grab verschwunden. Doch jetzt scheint ausgerechnet diese Gruppe erst angehender Instrumentenbauer Licht ins Dunkel gebracht zu haben.
Mit Lineal und Zirkel #
Der Reihe nach: Im September 2013 beginnen sich die sieben Schülerinnen und Schüler der Hallstätter Fachschule für Instrumentenbau mit dem Thema zu beschäftigen. „Die bisherigen Erklärungsmodelle – es gibt mindestens zwei Dutzend – waren viel zu komplex. Stradivari hat nur Lineal und Zirkel verwendet, er hat an die 1600 Instrumente gebaut, das heißt, er kann gar nicht die Zeit gehabt haben, eine derart große Wissenschaft daraus zu machen. Mir war klar, dass er nach einem einfacheren Prinzip gearbeitet haben muss“, erzählt die Musikwissenschafterin und Instrumentenbaumeisterin Simone Zopf (40). Sie unterrichtet die siebenköpfige Klasse und leitete das „Stradivari-Projekt“. Zu Beginn nur im Glauben, vielleicht die eine oder andere neue Perspektive zur Cremoneser Geigenbaukunst gewinnen zu können. Die Wochen vergehen. Die Schüler lesen. Vergleichen. Überprüfen. Verwerfen. Forschen weiter.
Nach einem Jahr Arbeit und „vielen zähen Phasen“, wie es einer der Schüler beschreibt, machen sie die Entdeckung: Auf einem Lineal aus Stradivaris Nachlass finden sie eine 18,66 Millimeter lange Maßeinheit, auf deren Basis er seine Instrumente gebaut haben muss, so Projektleiterin Zopf. „Wir haben die gängigsten Geigenformen von Stradivari untersucht und es zeigte sich, dass alle Abstände und Radien, ja selbst die Schnecke entweder Vielfache oder Teiler dieser Maßeinheit sind.“ Diese war zwar bereits seit 1980 bekannt, wurde aber nicht in Verbindung zur Konstruktion von Stradivaris Geigen gesetzt, ja hatte nicht einmal einen Namen – jetzt tauften sie die Schüler auf „Amati-Inch“. Denn nicht Stradivari, sondern Andrea Amati, der Vater des Cremoneser Geigenbaus aus dem 16. Jahrhundert, wandte das Maß vermutlich zum ersten Mal an.
Schlüssige Methode #
Doch die Geschichte geht noch weiter: Von dieser Maßeinheit ausgehend, entwickeln die Schüler mit ihrer Lehrerin ein auf konzentrischen Kreisen beruhendes Konstruktionssystem, mit dem sich Streichinstrumente nun erstmals mit einfachen Mitteln wie Lineal und Zirkel nach dem Stradivari- Schema entwerfen lassen.
„Dieser Ansatz ist sehr überzeugend“, meint Michael Malkiewicz vom Salzburger Mozarteum. Der Musikwissenschafter hat sich mit den Arbeiten der Schüler bereits detaillierter auseinandergesetzt. „Im Gegensatz zu den bisherigen Erklärungsversuchen hat man jetzt zum ersten Mal eine einfache und schlüssige Methode gefunden, wie Stradivari seine Streichinstrumente gebaut haben könnte. Als endgültigen Beweis bräuchte man freilich eine historische Bauanleitung von ihm selbst. Nur: Eine solche gibt es leider nicht.“ Als gesichert sieht Malkiewicz dagegen an, dass die italienischen Geigenbauer auf Basis der von den Schülern entdeckten 18,66-Millimeter-Einheit gearbeitet haben. „Das war in der damaligen Zeit auch in anderen Bereichen ein gängiges Maß, vor allem in der Architektur.“
Auf einem internationalen Kongress im italienischen Geigenbau- Mekka Cremona präsentierten die Schüler vergangenen Herbst ihre Arbeit und trafen auf positive Resonanz. „Eine wirklich interessante Hypothese. Jetzt wäre es spannend, diese gemeinsam an weiteren Stradivari- und Amati- Instrumenten aus unserer Kollektion zu überprüfen“, meint etwa Jean-Philippe Echard, ein Kurator des Pariser Musée de la Musique. Doch die wirkliche Diskussion wird wohl erst dann starten, wenn die Forschungsergebnisse wissenschaftlich publiziert und damit einem breiten Fachpublikum zugänglich sind. Nicht so lange warten wollte das renommierte Royal College of Music in London: Sie haben von den jungen Leuten aus Österreich und ihrer Projektleiterin bereits gehört und sie prompt für den kommenden Instrumenten-Fachkongress eingeladen: Man will sich das neue Modell erklären lassen.
Wie die Rezeptur von Cola #
Bei den Schülern in Hallstatt herrscht indes eine Mischung aus Gelassenheit („Naja, cool ist es schon“) und Freude: „Anfangs konnte ich es nicht glauben, dass wir da eines der Geheimnisse Stradivaris gelüftet haben sollen. Ich dachte mir: Kann es sein, dass wir das gefunden haben, was andere Jahrhunderte lang übersehen haben?“, erzählt Zopf. „Das ist ungefähr so, wie wenn man der Rezeptur von Coca Cola auf die Spur gekommen ist.“ Ein Schüler grinst und meint: „Nein, es ist wie die erste Mondlandung.“ Die anderen lachen. Sie stehen an ihren Zeichentischen und arbeiten an ihrer Abschlussarbeit – jeder von ihnen entwirft sein eigenes Saiteninstrument. Selbstredend nach dem Stradivari-Prinzip.
Malkiewicz: „Das ist das eigentlich Bahnbrechende: Die Erkenntnisse der Schüler erlauben einen völlig neuen Blick auf den Instrumentenbau.“