"Zehn Finger an jeder Hand"#
Sigismund Thalberg (1812-1871) gehörte als Pianist und als Komponist zu den musikalischen Superstars seiner Zeit.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag/Sonntag, 29./30. Dezember 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Brigitte Biwald
Sigismund Thalberg war einer der prominentesten Pianisten des 19. Jahrhunderts und wurde in klaviertechnischer Hinsicht genauso hoch geschätzt wie sein Zeitgenosse Franz Liszt. Während aber Liszt als Komponist kaum Anerkennung fand, erhielt Thalberg auch für seine Werke lobende Rezensionen. Heute hingegegen wird von seinen Werken fast keines mehr gespielt.
Als Ursache dafür ist zu vermuten, dass Thalbergs starke Vorliebe für den in der Zeit um 1840 weltweit verbreiteten italienischen Stil der Opern Rossinis Bellinis und Donizettis ihm nachträglich zum Verhängnis geworden ist; denn seine Fantasien, selbst sein "Souvenir de Beethoven", waren italienisch gefärbt. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der von Thalberg bevorzugte italienische Stil jedoch zunehmend kritisch gesehen und abgelehnt.
Sigismund Thalberg gilt als österreichischer Komponist, obwohl er am 8. Jänner 1812 in Pâquis bei Genf geboren wurde und am 27. April 1871 in Posillipo bei Neapel gestorben ist. Er war das uneheliche Kind von Julia Bydeskuty von Ipp, die aus dem ungarischen Landadel stammte und seit 1820 mit dem Baron Wetzlar verheiratet war. Thalbergs Vater war vermutlich Fürst Franz Joseph von Dietrichstein, der neben anderen Titeln jenen eines Freiherrn von Thalberg führte. Sigismund lebte in Wien im Palais Dietrichstein am Michaelerplatz, welches 1897 abgerissen wurde. An dessen Stelle wurde, etwas eingerückt, das heute noch bestehende "Zinspalais" mit dem (neuen) Cafe Griensteidl errichtet.
Das Wunderkind#
Es wird vermutet, aber es ist nicht belegt, dass Thalbergs Klavierlehrer Carl Czerny und Johann Nepomuk Hummel waren. Auf jeden Fall war Thalbergs Mutter eine sehr gute Amateurpianistin und erteilte ihrem Sohn Klavierunterricht.
Thalberg debütierte in Wien Anfang der 1820er Jahre als Pianist mit Werken von Beethoven und Hummel, aber auch mit eigenen Werken. Im Jahr 1828, im Alter von 16 Jahren, veröffentlichte er als Opus 1 eine Fantasie über Melodien aus Carl Maria Webers "Euryanthe". Zwei Jahre später konzertierte der Achtzehnjährige in Berlin und Leipzig und schloss Bekanntschaft mit der Pianistin Clara Wieck, der späteren Clara Schumann. Sie war von seinem Spiel begeistert.
Zwischen 1830 und 1844 bereiste Thalberg als Virtuose sehr erfolgreich weite Teile Europas und traf auch mehrmals mit Franz Liszt, unter anderem in Wien, zusammen. Als Thalberg sich seit Anfang Februar 1837 zum zweiten Mal in Paris aufhielt, kam es zu einer Konfronta-tion zwischen den beiden. Ohne, dass Liszt es zugeben mochte, beunruhigte in dieser Rivale, der in Paris, dem Mittelpunkt der Musikwelt, eine solche Begeisterung hervorrief. Dass Thalberg überdies der Aristokratie angehörte, wirkte wie ein Stachel. Im Jänner 1838 veröffentlichte Liszt eine bissige Kritik über einige Klavierstücke Thalbergs. Nicht ganz zu Unrecht kommentierte der einflussreiche belgische Komponist und Musikologe François Joseph Fétis diese Kritik als das "Ausgießen schlechter Laune" auf einen "glücklichen Nebenbuhler". Nach dem gespannt erwarteten "Duell" im Salon der Fürstin Belgiojoso (1808-1871), einem Benefizkonzert für italienische Flüchtlinge, wurden beide zu Siegern erklärt. Der wie immer noble Thalberg erkannte Liszts Überlegenheit an, "in dessen Spiel man gewaltige Akkordfolgen, artistische Sprünge, schwierigste Läufe in schnellem Staccato wahrnehmen konnte, atemberaubende, nie gehörte Effekte".
Eine ganz außerordentliche Quelle bestätigt Thalbergs Künste: Die englische Schriftstellerin Frances Trollope verbrachte den Winter 1836 in Wien. Aus ihrem Reisebericht geht hervor, wie sehr sie von Wiens Musikleben enttäuscht war. Demnach litt die Stadt Wien unter dem "Walzerfieber", Werke von Mozart, Beethoven und Händel wurden selten aufgeführt. Die Londoner Oper hatte nach Trollopes Ansicht ein höheres Niveau.
Wesentlich wohlwollender äußerte sich die Schriftstellerin in ihrer Kultur-Berichterstattung über ein Konzert Thalbergs, das sie am 8. Dezember 1836 im Wiener Musikverein erlebte:
"Wir sind auch in einem Konzert des berühmten Pianisten Thalberg gewesen. Sein Ruhm ist sowohl in London als auch in Paris bereits so groß, dass ich nichts mehr hinzuzufügen brauche. Er leistet auf dem Pianoforte zweifellos mehr als je ein Sterblicher vor ihm; die Pariser Karikatur, die ihn mit zehn Fingern an jeder Hand zeigt, ist in der Tat sowohl ein Kompliment als auch ein sinnreiches Bild. Nach diesem Konzert hatte ich das Vergnügen, ihn in einer privaten Gesellschaft zu hören, und die wunderbare Vollendung seines Spiels trat da noch mehr hervor als in dem größeren Saal. Er weiß seine Finger zu gebrauchen, wie niemals zuvor Finger gebraucht worden sind."
Thalberg spielte an diesem Tag vor dem begeisterten Publikum im Wiener Musikverein zwei neue Fantasien, eine über Motive aus Mayerbeers "Hugenotten", die andere über die englischen Volkslieder "God save the King" und "Rule Britannia".
Der Kritiker Heinrich Adami schrieb in der "Allgemeinen Theaterzeitung" vom 10. Dezember 1836, dass es sich "um geniale Kunstleistungen handelte, geistreich und tief gedacht, voll Abwechslung und Leben, kühn und neu in Form und Verbindung".
Ein Spitzenverdiener#
Im Vergleich mit Liszt hat Thalberg eine viel geringere Zahl von Konzerten gegeben. Während sich Liszt in Städten wie Wien und Paris in ganzen Serien von Konzerten hören ließ, trat Thalberg an diesen Orten nicht öfter als zwei Mal pro Saison auf. Dabei war er als Virtuose ein Spitzenverdiener.
Nachdem er bereits aus seinem ersten eigenen Konzert in Paris am 16. April 1836 einen Gewinn von 10.000 Francs gezogen hatte, nahm die Höhe seiner Einkünfte in späteren Jahren noch zu. Liszt, der im April und Mai 1836 in Lyon konzertierte, musste sich in dieser Zeit mit einer Einnahme von 500 Francs pro Konzert begnügen. Obwohl die Einkünfte von Liszt geringer waren, hatte er sich mit Vorwürfen einer übertriebenen Geldgier auseinanderzusetzen. Derartige Vorwürfe blieben Thalberg erspart. Hector Berlioz bezeichnete Thalberg als einen Menschen, "bei dem sich alles zum Guten wandte", der sozusagen "ohne eigenes Zutun" ein Glückspilz war.
Im Mai 1848 hatte Liszt noch einmal Gelegenheit, das Klavierspiel seines früheren Rivalen zu hören. Im Frühjahr 1853 gab er seinem Schüler und späteren Schwiegersohn Hans von Bülow den Rat, in Wien Thalberg zu besuchen, und auch in von Bülows Briefen sind begeisterte Schilderungen von Thalbergs Musik zu finden.
Im Frühjahr 1843 heiratete Sigismund Thalberg die älteste Tochter von Luigi Lablache, seinem einstigen Gesangslehrer. Dieser war ein berühmter Bassist am italienischen Theater in Paris,. Aus der Ehe ging am 16. April 1858 die Tochte Zaré hervor, die nach dem Tod ihres Vaters den Beruf einer Opernsängerin ergriff. Sie debütierte mit großem Erfolg im April 1875 in der Royal Italian Opera in London als Zerline in Mozarts "Don Juan".
Thalberg war ein sehr produktiver, vor allem mit seinen Klavierwerken äußerst erfolgreicher Komponist. Als sein berühmtestes Konzertstück wird seine Fantasie op. 33 über Melodien aus der Oper "Moses" von Rossini angesehen, die er erstmals am 12. März 1837 in der Zeit seiner Konfrontation mit Liszt in einem Konzert im Pariser Konservatorium spielte. Die Fantasie wurde bald nach ihrer Veröffentlichung im Frühjahr 1839 von vielen anderen Pianisten, darunter Clara Schumann, in das eigene Repertoire übernommen. Thalbergs Fantasie op.12 über Melodien aus der Oper "Norma" von Bellini wurde mehrfach von Liszt öffentlich gespielt.
Zu den besonders erfolgreichen Kompositionen Thalbergs gehören ferner die Fantasie op. 20 über Melodien aus der Oper "Die Hugenotten" von Meyerbeer, die Fantasie op. 40 über Melodien aus der Oper "La Donna die Lago" von Rossini, die 2. Don Juan-Fantasie op. 42 und das Werk "Théme et ètude", op. 45. Thalbergs Fantasie op. 51 über Melodien aus der Oper "Semiramis" von Rossini wurde nach ihrer Veröffentlichung Anfang März 1844 von Felix Mendelssohn Bartholdy mit Worten der Begeisterung begrüßt.
Ablehnende Kritiken#
Die Fantasie wurde im Frühjahr 1844 von Clara Schumann einstudiert und in ihren Konzerten in Russland gespielt. Thalbergs "Souvenir de Pest", op. 65, fordert zu einem Vergleich mit der ersten "Ungarischen Rhapsodie" von Liszt heraus. Für die Klaviersonate op. 56, die im Dezember 1844 erschien, wurde Thalberg allerdings mit sehr ablehnenden Kritiken bedacht. Als Komponist anspruchsvoller Musik war er offenbar unerwünscht.
Thalbergs sehr handgerechter und klangschöner Klaviersatz ist bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein für viele andere Komponisten vorbildlich gewesen. Insbesondere Liszt hat in eigenen Klavierwerken von den Werken seines Rivalen profitiert.
Weil in den Jahren 1851 und 1855 Aufführungen seiner Opern "Florinda" und "Christina di Svezia" Misserfolge waren, unternahm Sigismund Thalberg Tourneen durch Länder Süd- und Nordamerikas.
Nach der Rückkehr kaufte er 1858 in Posillipo in der Nähe von Neapel ein Landgut, wo er sich niederließ und für die folgenden vier Jahre in Zurückgezogenheit lebte. Im Frühjahr 1862 konzertierte er noch einmal erfolgreich in Paris und in London. Im Jahr 1863 schied Thalberg aus dem aktiven Musikleben aus. Er beendete seine Laufbahn als Pianist und widmete sich nur noch dem Anbau von Wein, für den er 1867 in einer Ausstellung in Paris einen Preis erhielt.
Sigismund Thalberg starb 1871 in Posillipo. Er hinterließ eine wertvolle Sammlung, die mehrere hundert musikalische und andere Autographen berühmter Komponisten umfasste. Die Sammlung wurde nach seinem Tod verkauft. Einige Teile, darunter Briefe Mendelssohns, sind bis heute verschollen.
Brigitte Biwald, geboren 1951, ist Historikerin und in der Erwachsenenbildung tätig, Ihr Schwerpunkt ist Medizingeschichte, sie lebt in Perchtoldsdorf.
Literaturhinweise:#
- Johann Nepomuk Dunkl: Aus den Erinnerungen eines Musikers. Wien 1876.
- Christina Höfferer: Eine literarische Erkundung Wien im Jahr 1836. Frances Trollopes Reisebericht "Vienna and the Austrians" im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik. In: Wiener Geschichtsblätter, 2/2010, S. 105-121.
- Barbara Meier: Franz Liszt. Hamburg 2008.
- Gerd Mühsam: Sigismund Thalberg als Klavierkomponist in Wien. Diss. Wien 1937.