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Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen #

Wie eine menschlichere Arbeitswelt der Zukunft sich im Zeitalter der Digitalisierung gestalten kann und warum das Überflüssige notwendig ist. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE, 15. März 2018

Von

Ursula Baatz


Jene, die schon länger überflüssig sind, erkennt man hierzulande meist an den Zähnen. Wen der Arbeitsmarkt an den Rand gespült oder ausgeworfen hat, kann sich das strahlende Lächeln im Gesicht nicht mehr leisten. Überflüssig ist, wer keine oder schlecht bezahlte Arbeit verrichtet, wenig Geld hat und daher noch weniger konsumiert. Für die dominante Wirtschaftslogik zählen diese Menschen nicht. Da sind nur Umsatz und Gewinn die „echten Werte“. Das sind nicht nur theoretische Positionen, sondern weit verbreitete Ansichten. Vor Kurzem war in einem Leserkommentar einer österreichischen Tageszeitung zu lesen: ein Mensch, der Mindestsicherung bezieht, trägt nichts zur Gesellschaft bei. Ob der Mindestsicherungsbezieher ein liebevoller Opa ist oder eine von Depressionen geplagte Frau, die am Fensterbrett Blumen zieht, wenn es ihr gut geht; eine Mittfünfzigerin, die keine Erwerbsarbeit mehr findet und im Seniorentreff die Kaffeeküche betreut oder ein Junger, der ohne Ausbildung keine Arbeit findet – alle sind sie nach der Logik des Geldwertes unnütz, weil sie nichts tun, was Geld wert ist.

Der nächste Schritt ist, sie als „Schmarotzer“ oder „Durchschummler“ zu kriminalisieren. Die Statistik des AMS weist jedoch aus, dass von den rund eine Million Personen, die im Vorjahr in Österreich mindestens einen Tag arbeitslos waren, sich nur 237 Personen als „arbeitsunwillig“ erwiesen.

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, heißt es in der Bibel, genauer im zweiten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki. Paulus spricht jedoch nicht über Langzeitarbeitslose, sondern richtet sich an solche, die andere für sich arbeiten lassen. Und es heißt auch nicht: Nur wer arbeitet, soll essen, sondern wer arbeiten WILL – gefragt ist die Motivation, der Wille zur Arbeit. Doch heute steht in Frage, was Arbeit ist. Denn Arbeit ist ein historisches Projekt.

In der Antike galt manuelle Arbeit als eine Angelegenheit für Sklaven, Frauen und Knechte. Man schätzt, dass im alten Rom mindestens ein Viertel der Bevölkerung Sklavenarbeit verrichtete, um die Stadt mit Nahrung zu versorgen und die Verwaltung zu gewährleisten. Diese Arbeit war Mühe und Plage (pónos) und eine Schande für freie Bürger und Vermögende. Die beschäftigten sich mit der Pflege sozialer Beziehungen, mit Politik und genossen die Muße. Mit anderen Worten, sie ließen arbeiten.

Dagegen richtet sich das Wort des Paulus: Arbeit ist nichts sozial Diffamierendes, im Gegenteil. Arbeit gehört – genauso wie Muße – selbstverständlich zum Leben des Menschen, macht aber nicht den Sinn des Lebens aus. Man kann das Zitat des Paulus also heute nicht als Rechtfertigung benützen, um das unbedingte Grundrecht auf Leben umzuwandeln in ein drakonisches Tauschverhältnis, das besagt: Recht auf Leben hat nur, wer die Pflicht zu arbeiten erfüllt. Dabei zeigt Geschichte, dass der Begriff und das Verhältnis zur Arbeit sich bis in die aktuelle Gegenwart immer wieder enorm wandelt.

Umfassender Arbeitsbegriff #

Im Mittelalter waren Gesellschaft – und Arbeit – nach Ständen und Zünften gegliedert. Heute erinnern nur noch alte Straßennamen daran. Der Arbeitsbegriff war umfassend, denn auch die Bettler bildeten einen eigenen Stand und waren damit ein anerkannter, wenngleich nicht sehr geschätzter Teil des gesellschaftlichen Systems. Viel sagt über den Stand der Bettler aus, dass z. B. Mitglieder des Adels von ihrem Beichtvater zur Buße zum Betteln auf die Straße geschickt werden konnten. Im Zeitalter des barocken Absolutismus ändert sich dies. Der Frühkapitalismus sah im Merkantilismus, einer vom Staat dirigierten Handels-, Gewerbe- und Verkehrspolitik, das passende ökonomische Modell. Arbeitshäuser und zwangsweise Erziehung zur Arbeit sind eine Erfindung neuzeitlicher Utopien und werden dann auch in die neuzeitliche Praxis umgesetzt. Arbeit ist für die unteren Stände Pflicht, und man kann bei Michel Foucault nachlesen, wie „Arbeitsmoral“ den Menschen buchstäblich eingebläut wurde. Nun sichert der Verkauf der Arbeitskraft – und das heißt der Verkauf von Lebenszeit – den Lebensunterhalt. Arbeit wird immer mehr zur gesellschaftlichen Pflicht – das „will“ wird weggelassen und der Imperativ „arbeite“ bleibt. In dieser Form findet sich der Satz des Apostels Paulus dann auch in der Verfassung der Sowjetunion wieder.

Doch die „Hacke-und-Schaufel-Jobs“, die noch bis vor etwa einem Jahrzehnt für viele eine Möglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts waren, verschwinden. Die Digitalisierung wird aber auch viele von Akademikern besetzte Arbeitsbereiche überflüssig machen. Die Prognosen variieren – doch sicher ist, es trifft vor allem, aber nicht nur, die weniger Qualifizierten. Was wird mit jenen geschehen, die aus psychischen oder anderen Gründen sich nicht anders oder höher qualifizieren können? Mit jenen, die arbeiten wollen, aber nicht arbeiten können? Wird ihnen das Recht auf Leben abgesprochen werden, weil die Arbeit fehlt, die sie tun könnten?

Der Verlust von Arbeit und Lebensunterhalt trifft nicht nur Menschen in Europa, mehr noch Menschen in den Staaten des Südens. Was geschieht mit Kleinbauern, deren Land vom Staat zugunsten transnationaler Firmen enteignet wird? Selbst wenn sie zu jenen gehörten, die unter der Armutsgrenze der UNO von 1,99 Dollar liegen, hat ihr Land ihnen zur Subsistenz verholfen. Sie verlieren nun auch ihren Lebensunterhalt, wandern in die Städte ab und von dort aus gehen manche Richtung Europa. Vielleicht wird auf ihrem ehemaligen Land jene Kaffeesorte angebaut, die man in angesagten hauptstädtischen Cafés trinkt und gleichzeitig über die „Überflüssigen“ aus Afrika schimpft. Wie Ilja Trojanow schreibt: Es ist der Überfluss, der die Überflüssigen erzeugt.

Vermeintlich Unnützes #

Was als unnötig oder nutzlos erscheint, gilt als überflüssig. Doch ist dies nicht nur eine Frage der Perspektive, sondern auch des Verständnisses von Zusammenhängen. So hat man zum Beispiel bis vor Kurzem in der Medizin das Bindegewebe der Faszien, das den ganzen Körper durchzieht, als überflüssig, weil unnütz betrachtet. Mittlerweile aber weiß man um die zentrale Bedeutung der Faszien für Gesundheit und Wohlbefinden. Faszien sind zur Zeit der „Renner“ am Fitness-Markt. Soweit zur Anatomie – aber wie ist es mit den grundlegenden Qualitäten des Wahren, Guten und Schönen?

Eine Evaluierung der Wiener Philharmoniker durch eine fiktive internationale Organisationsberatung ergab folgendes: „Da die Pauke nur wenige Male zum Einsatz kommt, ist sie überflüssig und kann eingespart bleiben. Die Streicher sind überdimensioniert und könnten zur Hälfte eingespart werden. Empfohlen wird weiters, die Wiederholungen in den Musikstücken zu eliminieren, ebenso die Pausen zu kürzen oder ganz zu streichen. Auf diese Weise könnte ein rascherer, effizienter Ablauf der Aufführung gewährleistet werden.“ Der Unfug dieser Bewertung ist offensichtlich: Es ist gerade das scheinbar Ineffiziente, Unnütze, Überflüssige, die Stille, aus der die Schönheit der Musik erwächst. Auch das Gute und das Wahre gehen nicht „effizient und verantwortungsvoll mit den Ressourcen“ um, sie folgen anderen Wegen.

Diese „Evaluierung“ ist natürlich ein Witz – doch folgen echte Evaluierungen von Betrieben ähnlichen Kriterien. Soziale Kontakte und Pausen werden als unnütz bewertet und wegrationalisiert. Es geht um die Mehrung der geldwerten Produktivität.

There is a free Lunch #

„There is no free lunch“, ein Spruch, der dem Ökonomen Milton Friedman zugeschrieben wird. Doch er irrte: Seine Ernährung im Mutterleib war unbezahlbar und unbezahlt genauso wie die liebende Fürsorge seiner Mutter nach der Geburt. Es ist bekannt, dass die Sorge für physische Bedürfnisse allein zur seelischen Verkümmerung und im Extremfall zum Tod des Säuglings führt. Menschen brauchen das Unsichtbare, das nicht in Geldwerte Umzusetzende, um leben zu können.

Für eine umsichtige, auf alle Faktoren bedachte Ökonomie ist es eine Binsenweisheit, dass es ohne Reproduktion und ohne natürliche Ressourcen keine Produktivität gibt. Doch gehen weder der Verbrauch natürlicher Ressourcen noch Reproduktionstätigkeiten in die Berechnung des BIP ein.

Natürliche Ressourcen, das sind nicht nur Bodenschätze und Wasserkraft, das sind die Sonne, der Regen, Wälder, Insekten – das Geflecht des Lebendigen eben. Reproduktion – dazu gehört u. a. mit Kindern Mensch-ärgere-dich-nicht spielen oder ihnen abends vorlesen, Essen kochen und gemeinsam essen, Knöpfe annähen, Wandern, Lesen aus Spaß, aus dem Fenster schauen oder mit Nachbarn reden. All dies sind Tätigkeiten, die nicht unter Erwerbsarbeit fallen. Doch sie sind notwendig – lebensnotwendig, weil sie lebendig machen.

Der Psychologe Erich Fromm unterstellte der gegenwärtigen Gesellschaft, dass sie nekrophil sei, also das Tote liebe und das Lebendige töte. Seine Kritik richtete sich an die Konsumgesellschaft der 1950er-/1960er-Jahre, die HABEN wollte, was nicht festzuhalten ist in den entscheidenden Augenblicken des Lebens, weder in der Liebe noch im Tod. Und dabei vergaß, einfach zu SEIN. Wie nekrophil sind wir, die Kinder- und Enkelgeneration?

Die Autorin ist Kuratorin des Symposions Dürnstein.

DIE FURCHE, 15. März 2018


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