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Heikler Balanceakt zwischen Freiheit und Gesundheit#

Covid-19 spielt Grundrechte gegeneinander aus. Zu Recht? Die Juristin Ursula Kriebaum im Gespräch.#


Von der Wiener Zeitung (10. Dezember 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Cathren Landsgesell


Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In ihrem 73. Jahr sind die Menschenrechte in einer besonderen Situation: Covid-19 zwingt Staaten dazu, verschiedene Rechte gegeneinander abzuwägen: Das Recht auf Leben gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung etwa. Anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte sprach die "Wiener Zeitung" mit der Rechtswissenschafterin Ursula Kriebaum über die Risiken dieser Gratwanderung.

"Wiener Zeitung": Österreich und die meisten Staaten in Europa befinden sich bereits zum zweiten Mal in einem mehr oder weniger strengen Lockdown. Ist aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive besondere Aufmerksamkeit geboten?

Ursula Kriebaum: Man muss aufmerksam sein, weil Lockdowns mit Einschränkungen der Menschenrechte verbunden sind. Es muss in dieser Situation das Recht auf Gesundheit gegen andere Menschenrechte, in die durch die Maßnahmen eingegriffen wird, abgewogen werden. Menschenrechtseinschränkungen sind in einer Krise grundsätzlich möglich. Es gibt jedoch einige Menschenrechte, wie das Folterverbot, die absolut gelten, und bei denen daher keine Einschränkungen zulässig sind. Wenn aber etwa zum Schutz der Gesundheit verordnet wird, dass nur zu bestimmten Zwecken das Haus verlassen werden darf, dann kann eine derartige Einschränkung zulässig sein. Man muss jedoch immer im Einzelfall prüfen, ob ein bestimmter Eingriff in ein Menschenrecht zulässig war.

Die EU-Kommission hat mit Verweis auf die Pandemie Google, Facebook und Twitter verpflichtet, Fake News aktiv zu bekämpfen. Postings werden daher markiert oder gelöscht, auch wenn kein Straftatbestand vorliegt. Wie ist das aus menschenrechtlicher Sicht zu bewerten?

Da ist tatsächlich Vorsicht geboten, allerdings handelt es sich um eine im Detail sehr schwierige Problematik. Wenn die für die Bevölkerung verfügbare Information von Fake News dominiert wird, ist das natürlich problematisch. Auf der anderen Seite ist es ebenso problematisch, wenn man Dienste wie Facebook damit beauftragt, Zensur zu üben, indem bestimmte Inhalte mit Warnungen versehen werden oder gelöscht werden müssen. Es ist in jedem Fall notwendig, die einzelnen Maßnahmen zu überprüfen, um zu einer Bewertung zu kommen.

Schüttet man da nicht das Kind mit dem Bade aus? Man will Fake News verhindern und riskiert, selbst aus dem Recht zu fallen?

Eine Frau mit braunen etwas über schulterlangen Haaren und einem Seitenscheitel blickt lächelnd in die Kamera. Es ist ein Portrait-Foto, wobei die Frau leicht von der Kamara abgewendet ist und ihren Kopf zur Kamera hindreht. Die Frau trägt eine randlose Brille, ein leuchtend buntes Seidentuch und einen schwarzen Pullover.
Die Corona-Pandemie wird auch die Rechtswissenschaften verändern, sagt die Juristin Ursula Kriebaum. Sie ist Professorin für Internationales Recht an der Universität Wien. - © Marlene Rahmann

Wir hatten diese Problematik auch bei der Gesetzgebung zu Hass im Netz: Es werden Menschenrechtsverletzungen begangen, wenn man Hass im Netz freien Lauf lässt und von Seiten des Staates keinerlei Schutz anbietet. Wenn man aber die Plattformanbieter dazu bringt, Zensur zu üben, weil ihnen sonst horrende Strafen drohen, ist das auch bedenklich. Es gibt in einem solchen Fall kein einfaches richtig oder falsch. Es ist eine Frage der Abwägung zwischen verschiedenen Menschenrechten und den Schutzpflichten des Staates. Das muss man vorsichtig kalibrieren.

Kartellrechtsexperten in den USA sprechen von einer Gatekeeper-Funktion, die den Plattform-Unternehmen in Bezug auf Informationen im Internet zukommt. Sind Staaten in irgendeiner Weise verpflichtet, Pluralität zu ermöglichen?

Meinungsfreiheit soll gewährleisten, dass Menschen ihre Meinung ausdrücken können und nicht durch den Staat daran gehindert werden. Das ist das Grundkonzept des Rechts auf freie Meinungsäußerung, das implizit auch davon ausgeht, dass Eingriffe in das Recht von staatlicher Seite passieren. Dieses Recht ist nicht absolut, und staatliche Eingriffe können daher in bestimmten Situationen, etwa, wenn sonst Rechte anderer verletzt würden, zulässig oder sogar gefordert sein. Hier ist eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und anderen Menschenrechten, zu deren Gewährleistung der Staat in das Recht auf Meinungsfreiheit eingreift, gefordert. Durch Verpflichtungen von Plattformen, bestimmte Inhalte mit Warnung zu versehen oder zu löschen, wird die Abwägungsverpflichtung, wann in das Recht auf Meinungsfreiheit eingegriffen werden darf oder sogar muss, vom Staat auf die Privaten übertragen. Den Staat trifft aber auch bei Eingriffen von Privaten in Menschenrechte eine Verantwortung. Er muss im Rahmen seiner positiven Schutzpflicht dafür sorgen, dass Verletzungen des Rechts auf Meinungsfreiheit unterbleiben. Wobei ein Eingriff in die Menschenrechte von deren Verletzung zu unterscheiden ist. Erst wenn der Eingriff nicht gerechtfertigt ist, weil er etwa nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruht oder in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig ist, spricht man von einer Menschenrechtsverletzung.

War die Abwägungsfrage absehbar?

Alle Staaten betreten mit den Pandemiemaßnahmen Neuland. Um den Staaten gewisse Richtlinien in dieser Situation zu geben, hat der Europarat bereits im April 2020 in einem Dokument darauf hingewiesen, dass zwar im Notstand fast alle Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden könnten, dass ein derartiger Notstand aber nur die absolute Ausnahme sei, die nur unter sehr engen Voraussetzungen auch vorliege. Dieses Papier zeigt, dass der Europarat die Situation schon früh als sehr ernst eingestuft hat und auch die genau die Schwierigkeit gesehen hat, vor der wir jetzt stehen, nämlich zwischen den Schutzpflichten des Staates für das Recht auf Gesundheit und Einschränkungen anderer Grundrechte abzuwägen. Er hat unter anderem auch ausdrücklich auf die Verpflichtung der Staaten zum Schutz gegen Gewalt an Frauen hingewiesen.

Corona wird vielfach als Zäsur gesehen. Wird die Pandemie die Rechtswissenschaften verändern?

Corona hat jedenfalls Fragen im Zusammenhang mit der Abwägung des Rechts auf Gesundheit mit anderen Menschenrechten in den Fokus gerückt. Das Thema ist nicht neu: Der Artikel 5(1)e der Europäischen Menschenrechtskonvention legt fest, dass man zur Vorbeugung der Verbreitung gefährlicher ansteckender Krankheiten die Freiheit beschränken darf. Durch die Pandemie wird man sich intensiver mit der Abwägung des Rechts auf Gesundheit mit anderen Rechten – Recht auf Privatsphäre, Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder dem Recht auf Bildung beschäftigen. Es entstehen derzeit in diesem Bereich mehr Forschungsprojekte und die Publikationen nehmen zu.

Viele befürchten, dass bestimmte Einschränkungen der Grundrechte auch nach Corona bleiben werden. Können Sie diese Befürchtungen verstehen?

Ich kann die Befürchtungen verstehen, und die Gesellschaft muss sicherstellen, dass Einschränkungen der Grundrechte, die anlassbezogen vorgenommen wurden, sei es wegen Terrorismus oder wegen einer Pandemiebekämpfung auch wieder aufgehoben werden, wenn die unmittelbare Gefahr nicht mehr besteht. Das Problem der Persistenz ist immer gegeben, wenn es zu anlassbezogenen Einschränkungen von Grundrechten kommt.

Ursula Kriebaum ist Professorin für Internationales Recht an der Universität Wien mit Forschungsschwerpunkten im internationalen Menschenrechtsschutz. Anlässlich des Tages der Menschenrechte hält sie die Einführung zum Human Rights Talk des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte am Donnerstag, den 10. Dezember. Die öffentliche Veranstaltung zu Menschenrechten und Covid 19 wird via Facebook Live übertragen.

Wiener Zeitung, 10. Dezember 2020