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Das Soziale Im Staat #

Am Beitrag des Staates zu sozialer Gerechtigkeit führt kein Weg vorbei. Am Engagement des Einzelnen dazu auch nicht. Das legt Hildegard Burjans sozialpolitisches Vermächtnis nahe. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Samstag, 19. Jänner 2012)

Von

Franz Küberl


Foto: © Istockphoto
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Hildegard Burjan war eine exzellente Kennerin der sozialen Nöte und Unterdrückungen ihrer Zeit. Sie ist vor dem Hintergrund ihrer jüdischchristlichen Überzeugungen sowie ihrer praktischen sozialen Arbeit in die Politik gegangen. Ihr Einsatz für die Frauenrechte galt ihr als Menschheitsfrage. Ihre Politik war beseelt davon, dass soziale Gerechtigkeit und sozialer Friede in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, eine wesentliche Begründung für den modernen Sozialstaat noch heute.

Soziale Gerechtigkeit ist ein klar fassbarer und beschreibbarer ethischer Tatbestand. Grundrisiken des Lebens wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit sind aufzufangen. Solidarität zwischen den Generationen und Geschlechtern sind ein weiteres Fundament. Ebenso ist die Existenz dort zu sichern, wo der Lebensunterhalt durch Arbeit nicht (mehr) möglich ist. Zum anderen braucht es eine soziale Handschrift in all jenen Bereichen, wo die Verteilung von Lebenschancen und Zukunftsperspektiven auf dem Spiel steht, siehe Bildungssystem! Die Stärkung der individuellen Fähigkeiten, „capabilities“ genannt, die Achtung der Würde des Einzelnen, unabhängig von Herkunft oder Vorgeschichte, sowie das Gewähren der Teilhabechancen gehören zu jenen Zutaten, die eine zeitgemäße Sozialarbeit charakterisieren. Und soziale Gerechtigkeit hat mit einer Haltung zu tun: Sind Ämter und Behörden und vor allem Führungskräfte in Politik und Wirtschaft in der Lage, Gerechtigkeit auch dem Anderen, dem Nachbarn, dem Arbeitskollegen, dem Zuwanderer, dem Flüchtling, dem Außenseiter zukommen zu lassen und damit klar werden zu lassen, dass auch sie dieselbe Würde haben.

Bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit sind drei Ebenen gefordert:

  • Der Staat ist Gestalter des sozialen Ordnungsrahmens. Ihn trifft die Finanzierungsverantwortung, ebenso wie die Strukturverantwortung, von Ausbildungs- bis hin zu Qualitätsfragen. Österreich ist ein gutes Beispiel für den armutsvermeidenden Charakter von Transfer- und Sozialleistungen. Von derzeit 12 Prozent auf 43 Prozent würde die Armutsrate ansteigen, würden diese Leistungen gestrichen (EU-SILC 2010).

Staat – Solidargemeinschaft – Der Einzelne#

  • Zum Zweiten tragen Solidargemeinschaften ein erhebliches Ausmaß an sozialer Verantwortung. Das Feld reicht von den sozialen Wohlfahrtsverbänden bis hin zur Bergrettung, von den Religionsgemeinschaften bis hin zum Rettungsdienst, von Jugendorganisationen bis hin zu Nachbarschaftsnetzwerken. Auch ehrlich gemeinte CSR Projekte wären hier anzusiedeln. Die Liste ließe sich fortsetzen. Solidargemeinschaften organisieren die konkrete Hilfestellung, auch vielfach im Auftrag des Staates. Sie haben ihre Hände und Herzen bei den Menschen. Das fordert zur Innovation heraus und bei der Caritas auch zu dem Verständnis, Sprachrohr für jene zu sein, die keine Stimme haben, im In- und Ausland.
  • Und zum Dritten hängt die soziale Gerechtigkeit vom Engagement des Einzelnen ab. Das Ehrenamt bzw. die Freiwilligenarbeit ist für sich genommen eine große soziale Erfindung. Warum? Drei ausschlaggebende Begründungen möchte ich dafür liefern:

1. Solidarität braucht Leben und das passiert nur dort, wo Menschen empathiefähig und bereit sind, Anliegen und Nöte des Nächsten wahrzunehmen. Freiwilligenarbeit ist auch eine Antwort auf eine Konsumgesellschaft, die dem Kaufen gerne mehr Wert beimisst als dem Mensch-Sein.

2. Es gibt eine Dimension sozialer Gerechtigkeit, die nur in den menschlichen Fähigkeiten grundgepflegt werden kann, wo der Mitmensch ad personam gefragt ist. Ein einsamer Mensch braucht Gemeinschaft, einem Trauernden helfen Menschen, die fähig sind und sich die Zeit nehmen, zu trösten. Wie arm wären wir, würde die Nächstenliebe an eine staatliche Instanz delegiert. Nicht von ungefähr unterscheidet sich die Atmosphäre in einem Pflegeheim, in dem freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter willkommen sind von jenem, wo das nicht der Fall ist.

3. In vielen Menschen steckt eine tiefe innere Sehnsucht, die Welt ein Stück weit besser zu machen. In jeder Stunde, die freiwillig dafür gearbeitet wird, dass es anderen Menschen besser geht, schimmert eine Welt durch, wie sie sein könnte – und wie sie sein sollte. Die Gründung sehr vieler Angebote der Caritas geht auf das ehrenamtliche Engagement von Menschen zurück.

Ohne Zweifel ist Österreich als eines der reichsten Länder der Welt in der komfortablen Situation, von seinen Bürgerinnen und Bürgern viel an freiwilliger Arbeit bereitgestellt zu bekommen. In Zeiten von Sparpaketen, und das ist ja nicht das erste und wird sicher nicht das letzte sein, stellt sich die brennende Frage: Wie sehr kann und darf der Staat mit dem Bürgerengagement rechnen, wo der Staat den Sparstift ansetzt? Von der Freiwilligenarbeit die Lösung der Probleme einer hochkomplexen, durchorganisierten Gesellschaft zu erwarten, wäre eine glatte Themenverfehlung. Ebenso wäre die Forcierung von Freiwilligenarbeit anstelle einer vernünftigen Sozialpolitik ein Schuss ins Knie. Freiwilligenarbeit darf und kann nicht den Staat von seinen sozialpolitischen Verpflichtungen entheben, auch weil aus Rechten nicht Almosen werden dürfen. Ebenso verkehrt wäre es, die Freiwilligenarbeit von oben herab anordnen zu wollen oder sie mit Vorschriften zu bürokratisieren und damit zu blockieren. Soziales Engagement muss komplementär zu den Aufgaben des Sozialstaates verstanden werden. Klugheit zeigt sich in der Verzahnung von staatlich finanzierter professioneller Betreuung und freiwilliger Arbeit. Der Sozialstaat muss die Ziegel für das Haus Gesellschaft liefern, für den Zement zum Zusammenhalt ist die Freiwilligenarbeit zuständig. Dafür braucht es aber Freiraum, Eigenständigkeit und ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Akteuren.

An beiden Fronten Unmögliches erreicht#

„Hildegard Burjan ist nicht in die Falle der Alternative ‚struktureller Veränderung‘ oder ‚konkrete Hilfe im Einzelfall‘ gegangen. Dass sie an beiden Fronten das ‚Unmögliche‘ durchsetzte, macht die ihr eigene Größe aus. So entwickelt sie, die Verheiratete und Großbürgerliche, zeitgleich zur politischen Praxis auch den Stoßtrupp für den Einzelfall: die Caritas Socialis“, schreibt die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und beschreibt damit sehr gut ihr politisches Vermächtnis. Soziale Gerechtigkeit ist kein Zustand, der einmal erreicht ist. In einer sich ständig verändernden und mobilen Gesellschaft geht es darum, die soziale Gerechtigkeit immer wieder aufs Neue einzustellen. Auch und gerade dafür braucht es couragierte Bürger, die sich dafür ehrenamtlich und freiwillig einsetzen.

Der Autor Franz Küberl ist Präsident der Caritas Österreich.

DIE FURCHE, 19. Jänner 2012