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Eine zweckfreie Beziehung #

Echte Freundschaften sind lebensnotwendig, aber heute vielfach bedroht. Über eine soziale Kostbarkeit – von Aristoteles bis WhatsApp. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 29. Juni 2017).

Von

Angelika Walser


„Schau Mama, die Bettina hat einen Freund!“ Aufgeregt hält meine Zwölfjährige mir das Handy vor die Nase, das Display voll mit roten Herzis und Bussis. „Als WhatsApp-Gruppe dürfen wir ab sofort alle mitlesen!“, sagt sie – und ist begeistert über die Aussicht, in den kommenden Sommerferien live eine Liebesgeschichte miterleben zu dürfen. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter! Ich bin schockiert, halte umgehend einen Vortrag über notwendige Diskretion, die Intimität erster Liebesbeziehungen, mangelnde Erfahrung im Umgang mit sozialen Medien etc. Meine Tochter schaut mich ganz fassungslos an und sagt: „Aber Mama, wir sind doch Bettinas beste Freundinnen! Sie schickt das doch nicht irgendwem, sondern nur uns dreien!“

Ich breche meinen Vortrag abrupt ab und erinnere mich an die Zeit, die gefühlte hundert Jahre zurückliegt: der erste Liebesbrief, den meine Freundin erhielt und noch dazu auf Französisch! Natürlich durften wir Freundinnen ihn lesen, zumal Übersetzungshilfe vonnöten war. Wozu denn wären beste Freundinnen da, wenn nicht dafür, Freude und Aufregung zu teilen und bei Liebeskummer zu trösten? Digital mit einem einzigen Knopfdruck weiterleiten konnten wir den Brief damals allerdings noch nicht. Die Öffentlichkeit blieb eine kleine, kontrollierbare und überschaubare. Aber ist es nicht irgendwie auch beruhigend zu wissen, dass es das immer noch gibt: das Vertrauen zueinander; das Bedürfnis, das Leben miteinander zu teilen in all seinen Höhen und Tiefen; die Sicherheit, dass jemand Anteil nimmt am eigenen Leben?

Bedarf an neuen Solidarsystemen #

Dass das Bedürfnis nach Freundschaft in einer als kalt, unüberschaubar und anonym erfahrenen Welt zunimmt, unterstreichen soziologische Analysen seit den 1960er- Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute sei die Abnahme der Bindungskraft der traditionellen Familie ein zusätzlicher Grund für den Bedarf an neuen, subsidiären Solidarsystemen, analysiert Peter Siller, Leiter der politischen Bildungsabteilung der grünen „Heinrich-Böll-Stiftung“ (Berlin), in dem Sammelband: „‚Freundschaft‘ im interdisziplinären Dialog. Perspektiven aus Philosophie, Theologie, Sozialwissenschaften und Gender Studies“ (siehe Tipp nächste Seite, Anm. d. Red.).

Allerdings ist die gesteigerte Nachfrage ambivalent und sogar gefährlich für Freundschaften: Die derzeit angesagte „Netzwerkökonomie“ verflüssige die Sphären der Freundschaft und der Tauschbeziehung, so Siller. „Es ist kein Zufall, dass es heute (wieder) der Club ist, in dem vielfach das Eisen exklusiver Geschäftsverbindungen in der Verkleidung der Freundschaft geschmiedet wird.“ Der heute überall so gefragte „Netzwerker“ mag emotionale Nähe suggerieren, weil dies kommerziell oder strategisch nützlich ist – ein echter Freund ist er genau deswegen jedoch nicht. Echte Freundschaft zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass sie „zwecklos“ ist. Sie geschieht allein um der Freundschaft willen. Dies bedeutet nicht, dass es nicht sinnvoll wäre, über die rechtliche und politische Absicherung neuer Formen freundschaftlicher Solidarität nachzudenken, z. B. im Steuer- und Sozialrecht.

Freundschaft als Art von Liebesbeziehung #

Doch der letzte Grund einer Freundschaft ist eben gerade nicht ihr Nutzen, sondern, so hätte Aristoteles das in seiner „Nikomachischen Ethik“ formuliert, das gegenseitige Wohlwollen um des anderen willen. Aristoteles’ Differenzierung der drei Arten von Freundschaft ist bis heute aktuell geblieben: die emotional besetzte „Lustfreundschaft“, die vor allem in der Jugend wie ein Strohfeuer aufleuchtet und schnell wieder erlischt; die „Zweckfreundschaft“, die mit der Erreichung des Zwecks auch schon wieder vorbei ist; und die „Tugendfreundschaft“, die auf dem Wohlwollen für den anderen gründet und die gemeinsame Ausrichtung auf das Gute im Auge behält, wobei Aristoteles für letztere leicht resigniert feststellt, dass nur wenige Menschen zu ihr befähigt seien. So gesehen ist Freundschaft eine Art Liebesbeziehung. Als solche ist sie einerseits zerbrechlich und stets bedroht von Nutzenorientierung, Zeitmangel und Gleichgültigkeit. Andererseits ist sie oft erstaunlich vital und tragfähig, manchmal über Jahrzehnte.

In echten Freundschaften ist Raum für Vertrauen und für Offenheit – auch und gerade dann, wenn die Performance nicht stimmt und die perfekte Fassade bröckelt. Hier können Verletzlichkeit und Ratlosigkeit eingestanden werden, darf man darauf hoffen, verstanden und akzeptiert zu werden wie man ist – jenseits von Leistungsansprüchen und Überforderungen. Vielleicht wird Freundschaft deswegen so häufig und auch ein bisschen kitschig als eine Art warmer Insel in einer kalten Welt beschrieben, als geschützter Hafen in den Stürmen des Lebens. Das Wort Freundschaft steht als Chiffre für die Sehnsucht des postmodernen Subjekts nach einem Zuhause, wo die tausend Splitter der eigenen Biografie zu einem sinnvollen Bild zusammengesetzt werden können, so dass dem eigenen Leben wenigstens ein Hauch von Kontinuität abgerungen werden kann. In freundschaftlichen Begegnungen mit all ihren Höhen und Tiefen lernt man, wer man (nicht) ist und wer man gerne wäre – und kann solche Erfahrungen zumindest theoretisch in Begegnungen quer durch die Altersstufen, Milieus und Geschlechter machen. In der Praxis belegen sozialwissenschaftliche Studien allerdings die ebenfalls bereits aristotelische Feststellung vom „Gleich und gleich gesellt sich gern“. So bleibt „bürgerlich-akademisch“ meist bei „bürgerlich-akademisch“, Mann bei Mann, Frau bei Frau, Arbeiterschicht bei Arbeiterschicht. Und doch bestätigen Ausnahmen immer wieder die Regel und sind gerade deshalb oft besonders kostbar und schön. Weil die soziale Beziehungsform der Freundschaft im Allgemeinen vernunftbetonter und distanzierter ist und meist weniger von erotischem Begehren geprägt ist als eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, hält sie Unterschiede oft besser aus.

Die Kunst, Freundschaften bewusst zu pflegen und ihnen damit Raum im hektischen Alltag zu geben, ohne sie ständig zu instrumentalisieren, ist im 21. Jahrhundert allerdings gar nicht so einfach. Man sollte meinen, dass die sozialen Medien hier neue Möglichkeiten schaffen, Barrieren zu überwinden. Doch machen bereits Jugendliche die typische Facebook-Erfahrung, welche die deutsche Punkrockband Turbostaat lapidar auf den Punkt bringt: „500 neue Freunde – keiner da“. Facebook ist keineswegs eine sichere Eintrittskarte für Freundschaften aller Art, sondern verwischt mit der Ausdehnung des Freundschaftsbegriffs auf jedermann die für das soziale Miteinander durchaus hilfreichen Differenzierungen: Nicht jede nette Bekannte ist automatisch eine Freundin, nicht jeder Kollege ein Freund.

Das Netz als Freundschaftsgenerator? #

Es wäre auch naiv zu glauben, soziale Medien dienten ausschließlich der Freundschaftsstiftung und -pflege. Sie sind mindestens genauso sehr ein Ort knallharter Selbstvermarktung bzw. ein Echoraum, der nur doch dazu dient, Selbstbestätigung zu finden: „Das Netz als narzisstische Ich-Maschine anstatt als Freundschaftsgenerator“, formuliert es Peter Siller. Freundschaft als Raum für die Anerkennung und Wertschätzung der Diversität von Menschen droht in den Echoräumen des WWW verloren zu gehen. Dabei ist es genau das, was Freundschaften zu Lernorten für die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit und damit für das Zusammenleben aller Menschen gerade in schwierigen Zeiten so besonders wertvoll macht: Dass der/die andere anders tickt und genau deswegen vielleicht eine wertvolle Einsicht parat haben könnte; dass man aus sehr unterschiedlichen Welten kommen und doch an einem gemeinsamen Projekt arbeiten kann: dem guten Leben aller Menschen; am wichtigsten aber: dass man einander mögen kann, ohne den Grund dafür genau nennen zu können.

Vieles davon hat meine Zwölfjährige auf ihre Art und Weise bereits selbst verstanden – auch ohne die Vorträge ihrer Mutter. Und neulich hat sie mir doch tatsächlich beigebracht, wie man auf WhatsApp die roten Herzen vergrößert. Sie meinte nämlich: „Wenn du schon über so peinliche Dinge wie Liebe und Freundschaft schreibst, dann solltest du doch wenigstens die Basics kennen!“

Die Autorin ist Professorin für Moraltheologie an der kath.- theol. Fak. der Uni Salzburg – und Autorin/ Herausgeberin zweier Bücher über Freundschaft.

DIE FURCHE, Donnerstag, 29. Juni 2017

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