Gefangen!#
Juni 2171. Die Diskussion über das heurige Urlaubsziel im Sommer ist schon beinahe in einen handfesten Streit "jeder gegen jeden" ausgeartet.
Der Sohn möchte unbedingt in die Librationszone des Merkurs, um dort in der Dämmerung auf den allmählich erstarrenden Zinnseen herumzufahren, die rot glühenden Felsen der berühmten Sonnenebene zu sehen, die nur durch die im Schatten liegenden Teile aufrecht bleiben, und um die sich ein "Lava Kreislauf" herausgebildet hat . . . fast wie der Kreislauf des Wassers auf der Erde.
Auf die Einwände, das sei (auch wenn man noch die finsterschwarzen Täler der Merkurrückseite hinzunehmen würde) einfach zu wenig für einen längeren Urlaub, will er einfach nicht hören.
Die Tochter wieder schwärmt vom "P-Hüpfen" im Asteroidengürtel zwischen Jupiter und Mars, wo man bei fast Null Schwerkraft mit einem Sprung einen Asteroiden umkreisen kann, spielerisch zu einem anderen hinüberhüpfen kann, etc. "Langweilig", meint ihr Bruder nur dazu, "wenn man wenigstens nicht dauernd an den Sicherheitsseilen hängen müsste, dann wäre es zumindest ein bisschen aufregend".
Die Mutter will weit hinaus, zu den großen fahl-grünen Eisfällen des Pluto, von denen die Nachbarn so schwärmten; sie möchte das "am Rande des Sonnensystems- Gefühl" einmal erleben, das Fastdunkel des Pluto, nach dem alles auf der Erde wieder ekelhaft grell, kantig und scharf wirkt. Die lange Anreise ist ein Argument, das sie nicht gelten lässt: "Endlich kann man sich einmal richtig ausruhen", meint sie.
Ihr Mann hingegen zählt alle Schönheiten eines Besuchs der Mondkolonie auf: den Kontrast zwischen saftigen Wiesen mit Bächen und Seen unter einer der Großkuppeln und die tote Mondwüste außerhalb; das Gefühl "ich kann fliegen wie ein Vogel", das nur in der künstlichen Atmosphäre des Mondes wegen seiner geringen Schwerkraft möglich ist, usw. "Mond, Mond", meinen die Kinder verächtlich, "der ganze Pöbel fliegt heute schon zur Rimini- oder Mallorcakuppel". Keine der Ideen wird von allen gutgeheißen. Auch Kompromissvorschläge wie eine Rundtour durch die abwechslungsreichen Monde des Jupiter, oder ein Treck in gepanzerten Fahrzeugen durch die Schluchten des Mars finden keine Mehrheit.
Mürrisch sitzt man beisammen. Der Sohn sucht im Hyper-X gelangweilt nach weiteren Möglichkeiten. Plötzlich horchen alle auf: die Verhandlungen der Raumergewerkschaft mit der IPTS sind zusammengebrochen. Schlimmer noch, militante Mitarbeiter der Gewerkschaft haben die Energiereaktoren der geostationären Umsteigestationen 2-11 niedergefahren. Nur der Betrieb der Stationen 1 und 12 bleibt für Notfälle aufrecht. Eine Normalisierung des interplanetarischen Verkehrs ist frühestens in zwei Monaten möglich: bis dahin sind alle nicht-essentiellen Reisen untersagt.
Lähmendes Schweigen in der Familie: zuerst will es niemand so recht glauben. Aber je mehr Neuigkeiten bekannt werden, umso klarer wird es: der Traum vom Juli-Urlaub ist ausgeträumt. Heuer heißt es zu Hause bleiben; man wird sich mit ein paar Ausflügen in die Südsee oder nach Grönland - alles Dinge, die sattsam bekannt sind und wahrlich nichts mehr Neues bieten - begnügen müssen. Man ist jetzt doch tatsächlich mindestens zwei Monate lang eingesperrt, ohne Alternativen, ohne Bewegungsfreiheit: gefangen auf der Erde!
P.S.: Kann es wirklich zu solchen "Wertverschiebungen" kommen? Warum nicht: wenn heute mehrere Monate der gesamte Flugverkehr ausfiele, würden wir uns dann nicht auch fast "eingesperrt" vorkommen? Oder wenn gar noch alle anderen, auf Erdöl basierenden Fahrzeuge ausfallen würden, dann doch sicher. Und trotzdem sind niemanden vor 50 Jahren Flugzeuge oder vor 100 Jahren Autos abgegangen!
P.P.S: IPTS heißt natürlich Inter Planetary Transport Society. Die Aktienverteilung Stand 2141 ist: 24 % Indien, 21% China, 13 % Japan, 6 % USA und Europa. Alle anderen Staatengebilde sind nur Kleinaktionäre.
Noch ein P.S.: Ich habe Karten im Wienerwald von Wanderwegen gefunden, die heute nicht nur verwachsen, sondern eifnach verschwunden sind. Der übliche Wochenendausflug, zur Endstation einer Straßenbahn und dann eine mehr oder weniger ambitionierte Wanderung in den Wienerwald gilt heute als schlicht langweilig. Wäre plötzlich nur diese Möglichkeit vorhadnen würden sich die meisten als gefangen empfingen, als gefangen in Wien und Umbegung.
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.