Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Ich verstehe Deutsch nicht! #

Hermann Maurer

Es ist keine neue Beobachtung, dass verschiedene Personen mit ein und demselben Wort ganz verschiedene Dinge meinen können.

Wie groß die daraus entstehende Problematik allerdings ist, wird wenigen Menschen ernsthaft bewusst. Am ehesten ist uns die Vielschichtigkeit der Bedeutung bei so großen (und abgegriffenen) Worten wie "Liebe" oder "Gott" klar.

Dürenmatt meint etwa sinngemäß "der Begriff Gott ergibt keinen Sinn, weil hundert verschiedene Menschen darunter hundert verschiedene Dinge meinen: eine Person den allmächtigen, allgegenwärtigen christlichen Gott, eine andere eine nicht näher erklärte Kraft, die All, Erde und den Menschen geschaffen hat (aber vielleicht schon lange aufgehört hat, zu existieren?), eine dritte einen kosmischen Gesetzgeber, der dafür sorgt, dass die Natur in so wundersamer Weise zusammenspielt, eine vierte vielleicht nur ganz vage die Gesamtheit aller Naturgesetze, usw."

Beim Begriff "Liebe" ist es kaum anders: wie verschieden er doch interpretiert wird! Und ich meine damit gar nicht die "Haarspalterei" eines Hans Weigel in "Die unvollendete Symphonie", in der er einen großen Unterschied zwischen den beiden Aussagen "Ich lieb Dich" und "Ich liebe Dich" ortet (das erste leicht hingesagt und unbedeutend, das zweite eine tiefe, verbindliche Aussage, fast ein Versprechen mit vielen Auswirkungen).

Dass auch ganz normales Textmaterial viele Interpretationen zulässt, liegt nicht so sehr an der Mehrdeutigkeit der deutschen Sprache, sondern vielmehr an der Abhängigkeit der Bedeutung von Worten, Sätzen, Aussagen und Ideen von der Zeit, der Kultur, der Menschengruppe.

Nicht umsonst gibt es eine ganze Wissenschaft, die Hermeneutik, die sich nur mit der "richtigen" Interpretation von Textstücken beschäftigt! M. Feldenkrais sagt in seinem Buch "Abenteuer im Dschungel des Gehirns" etwa: "Obwohl Wörter das einzige allgemeine Kommunikationsmittel sind, haben sie keine genaue Bedeutung, weil sie ihrer zu viele haben und weil sie unendlich verschieden gebraucht werden".

L. Wittgenstein, der in seinem "Tractatus Logico Philosophico" für kristallklare Formulierungen bekannt ist und für solche eintritt ("Alles, was man sagen kann, kann man klar sagen; und worüber man nicht reden kann, davon soll man schweigen"), schreibt trotzdem in seinen "Philosophical Investigations" des Jahres 1953: "Die Bedeutung von Text ist polysemantisch" (d.h. erlaubt verschiedene inhaltliche Interpretationen).

Der berühmte Computerfachmann und Philosoph aus Ungarn, T. Vamos, meint in seinem Buch "Computer Epistemology", dass die Bedeutung eines Wortes von der "Gruppe" abhängt, die es spricht bzw. hört, d.h. nur dort richtig verstanden wird, wo dieselben Erfahrungen vorliegen. In dieselbe Kerbe schlägt D. Tannen mit ihrem berühmten Buch "Du verstehst mich einfach nicht", wo sie an Hand hunderter Beispiele überzeugend belegt, dass Weltbild, emotionales Verhalten und Anschauungen der Frauen so verschieden sind von denen der Männer, dass dadurch immer wieder böse Missverständnisse auftreten: Die Frau, die sagt "Mir ist nicht gut, ich bin ein bisschen krank", ist enttäuscht, wenn der Mann darauf antwortet "Soll ich Dich zum Arzt bringen?": ihre Aussage erfordert keine Tat (aber bei Männern steht das Tun, die Aktion stark im Vordergrund), ihre Aussage will nur Anteilnahme, ein Gespräch bewirken!

All dies sind Beispiele und Tatsachen, die jeder kennt, der sich ein bisschen ernster mit dem Verstehen (der Semantik) einer (beliebigen) Sprache beschäftigt hat. Heute gehe ich aber noch einen Schritt weiter: ich möchte behaupten, dass nicht nur verschiedene Menschen Worte verschieden verstehen, sondern dass wir alle andauernd Worte verwenden, die wir selbst nicht verstehen!

Ich denke etwa an das klassische Beispiel Gorbatschow, der auf die Frage eines Journalisten, er solle Kommunismus definieren, nicht recht wusste, was er sagen sollte. Aber, Hand aufs Herz, können Sie Kommunismus vernünftig definieren? Wissen Sie z.B., ob Kommunismus Planwirtschaft bedeutet, oder das nur zufällig in Russland so gewesen ist, usw.? Wer hat nicht schon von den "Neonazi" in den USA gehört und weiß, was damit gemeint ist? (Nicht nur Sie wissen das nicht, seien Sie getrost, auch die Journalisten, die es verwenden, wissen es genauso wenig).

Wenn Sie von Rauschgift reden, was von den folgenden rechnen Sie dazu, was nicht: Tee, Kaffee, Nikotin, Alkohol, Haschisch? Was bedeutet Rasse, Nation, Volk (um einige Worte zu wählen, über die wütende Gespräche oder Klagen geführt werden, und keiner weiß, was die andere Person überhaupt damit gemeint hat).

Wenn Sie von rohem Fleisch reden, meinen Sie ungekochtes oder nur unbehandeltes? Für manche Menschen sind Salzheringe, Speck, Bündnerfleisch, usw. roh, da ungekocht; für mich nicht.

Ein Aspekt erscheint mir besonders wichtig, der in dem Satz (ich weiß nicht von wem er stammt) "The biggest barrier between UK and USA is the common language" recht gut zum Ausdruck kommt: weil man (mehr oder minder) die selbe Sprache spricht glaubt man den anderen zu verstehen, obwohl dieser etwas ganz anderes meint!

Als Österreicher bemerke ich immer wieder Bedeutungsunterschiede zwischen Worten die Österreicher, Deutsche und Schweizer verwenden: ich haben schon Deutschen einen Sessel angeboten, die sich aber nicht niedersetzen konnte, weil es nur Stühle gab (in Österreich sind 'Sessel' und 'Stuhl' synonym), ich habe schon Deutsche beleidigt weil ich in Briefen um etwas 'ersucht' habe (in Österreich ist das ein höfliches 'bitte', in Deutschland nicht!), ich habe einen Freund in der Schweiz verunsichert, weil ich ihm gesagt habe er sei mir 'abgegangen': in Österreich interpretieren wir das als 'er hat mir gefehlt' im Sinne 'ich hatte Sehnsucht nach ihm', in der Schweiz wird es als negative Aussage interpretiert.

Damit es nicht zu langweilig wird, höre ich hier mit den Bespielen auf: es gibt abertausende, oft recht subtile. Darum bekenne ich öffentlich: ich verstehe Deutsch nicht! Aber wenn einige Leser in Kommentaren weitere Beispiele anführen würden wäre das sicher spannend!

Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.