Mut und Feigheit#
Nach einem Heurigenbesuch in Grinzing (Wien) sitze ich mit einem Freund in einer fast leeren Straßenbahn. Außer uns noch eine junge Frau am anderen Ende des Wagens, vier oder fünf andere Personen irgendwo dazwischen. Mein Freund und ich sind in "philosophische" Gespräche vertieft. Bei einer Haltestelle steigt ein Betrunkener ein, beginnt die junge Frau immer mehr zu belästigen.
Alle in der Straßenbahn ignorieren den Vorgang: "Nur nicht in irgendwas hineingezogen werden!", denken wohl alle. Mein Freund unterbricht plötzlich das Gespräch: "Entschuldige", sagt er, "ich muss etwas in Ordnung bringen".
Er steht auf, geht zu dem Betrunkenen die ganze Wagenlänge hinüber, packt ihn am Hemdkragen: "Lassen Sie sofort diese Frau in Ruhe oder Sie kriegen es mit mir zu tun". Er stößt den Mann mit Kraft weg von der Frau in eine Ecke, bleibt einen Moment stehen, um zu schauen, ob noch weitere Maßnahmen notwendig sind (nein).
Er kommt zu mir zurück, setzt sich, redet weiter, als wäre nichts geschehen.
Ich frage später: "Was hättest Du gemacht, wenn der dich angegriffen, ein Messer gezückt hätte, oder etwas Ähnliches?" "Ich hätte mich und die Frau verteidigt". "Und wenn er dich schwer verletzt oder gar getötet hätte?" "Unwahrscheinlich. Und wenn was passiert wäre, dann wäre es halt Pech gewesen. Aber schlimmstenfalls glaube ich, dass es besser ist, für ein gutes Prinzip zu sterben als irgendwann an Krebs, bei einem sinnlosen Absturz mit einem Paragleiter oder einfach an Altersschwäche. Viel zu viel Böses geschieht heute nur, weil die meisten Menschen zu feige sind, weil sie um ihr Leben viel zu viel Angst haben. Als wäre das Leben nicht etwas, das man garantiert sowieso einmal verliert?"
Wann habe ich das letzte Mal von "Prinzipien" und "dafür einstehen" gelesen? Bei Schiller? In Indianergeschichten? Im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen das dritte Reich?
Irgendwie hat das "Für-Prinzipien-eintreten, koste es, was es wolle" in diesem Jahrhundert auch einen bösen Beigeschmack bekommen: Zu oft ist das Hochhalten von Prinzipien oder gar nur der Symbole für Prinzipien missbraucht worden, um stures oder unmenschliches Verhalten zu entschuldigen.
Und doch: unterm Strich sind wir heute zu feige, zu wenig bereit, auch wenn es unangenehm wird, nicht nachzugeben; viel zu schnell schauen wir weg, fühlen uns nicht mehr verantwortlich.
Spontanen Mut und zähe Zivilcourage sind positive Eigenschaften, die wir wieder systematisch lernen und lehren müssen. Die Mutproben junger Indianer, das immer wieder als lächerlich abgetane Mensurenschlagen einzelner Studentenverbindungen sind vielleicht Beispiele für eine wichtige Erkenntnis: Ein Pilot reagiert in Gefahr nur dann richtig, wenn er oftmals im Kopf diese Gefahr durchdacht hat oder Simulationen davon erlebt hat; analog reagiert jeder von uns in kritischen Situationen nur dann, so wie er sollte, wenn er sich energisch und oft genug mit solchen Situationen auseinandergesetzt hat.
Als Bub wurde ich mit einer Gruppe von Kindern, als wir mit einem Verwandten unterwegs waren, von einem Stier angegriffen.
Der Erwachsene war schneller als wir Kinder, "rettete" sich über einen Zaun. Uns "erwischte" der Stier. Nun, es geschah nicht viel.
Dem Verwandten war dieser Vorfall ein halbes Leben lang peinlich; ich lernte etwas davon: so würde ich mich nie verhalten wollen.
Jahre später, in Kanada, mit Frau und Kindern unterwegs, hatte ich bei der Begegnung mit Bären und einmal mit einem Cougar (Berglöwen) fast die Notwendigkeit für eine Probe aufs Exempel. Damals wie heute kann ich nur sagen, ich hoffe, dass ich nicht davonrennen würde, wenn's darauf ankommt. Ich glaube, dass das Nachdenken über mögliche Situationen, aber auch kleine Mutproben, und sei es nur ein "Aufmucksen" gegen eine Autorität, dort wo es gerechtfertigt ist, die Chance erhöhen, dass wir gegebenenfalls "richtig" reagieren.
Das Buch "The red badge of courage" von Joseph Conrad, der "Klassiker" zum Thema Mensch, der befürchtet, notfalls den erforderlichen Mut nicht aufzubringen ... und der sich letztlich so mit dem Problem beschäftigt, so an sich arbeitet, dass er es eben doch schafft; oder der tschechische Widerstandskämpfer von George Louis Borges, der sich alle Varianten seiner bevorstehenden Hinrichtung ausmalt, um mit seiner Angst fertig zu werden: Beides sind Beispiele für die Ansicht, dass man das "Mit-der-Angst-und-Mit-dem-Tode-fertig werden" genauso lernen muss, wie alles andere.
Wir verdrängen Schmerz, Angst, Tod, ja sogar das Reden oder Lehren über diese soweit, dass wir dann völlig unvorbereitet in Situationen stolpern, denen wir nicht gewachsen sind.
Alle Passanten haben vor einigen Jahren weggesehen, als ein Mensch in der Kärntnerstraße buchstäblich zu Tode getrampelt wurde; wie viele Flugzeugentführungen weniger hätte es geben, wenn bei der ersten Gewaltanwendung von Gangstern gegen Passagiere diese geschlossen und ohne Zögern die Verbrecher attackiert hätten ... alle Versuche wären dann zum Scheitern verurteilt; wir alle sagen heute großartig, dass die vielen "Wegschauer" unter dem Hitlerregime feige gehandelt haben, . . . wie viele von uns würden sich heute anders verhalten?
Die Journalisten im Teheran- Hilton, die am Morgen seinerzeit um andere Zimmer baten, weil die Todesschreie der Gefolterten sie zu sehr im Schlaf störten, vermutlich nicht.
"Lieber rot als tot", hörte man vor Jahren von vielen als Parole: lieber sich notfalls einer Diktatur unterwerfen, als kämpfend gegen eine sterben, war damit gemeint: vernünftig oder Egoismus?
Egoismus, denke ich, weil der Anspruch auf freies Leben der Kinder und anderer Menschen gering bewertet wird gegenüber dem eigenen Leben. Selbst Bert Brecht hat ja geschrieben "Was geschieht, wenn sie Krieg machen und keiner geht hin? Dann kommt der Krieg zu dir." (Wobei der zweite Satz oft bewusst unterschlagen wird.)
Ich plädiere für einen neuen Stellenwert, auch und vor allem in der Erziehung für Zivilcourage, für das Einstehen wenigstens für Menschen oder "menschennahe" Prinzipien, auch wenn mir das Eintreten für abstrakte Begriffe ("Fahne", "Vaterland",... ) genauso suspekt geworden ist wie den meisten von uns. Ich plädiere dafür, dass wir uns und unser Leben (und je älter wir werden, umso mehr gilt das für jeden von uns) nicht zu ernst nehmen: begrenzt ist das Leben sowieso!
Mir erscheint die letzte Überlegung, dass "Mut" und "Feigheit" auch in Relation zum Alter bzw. zur Verantwortung gesehen werden sollten, diskussionswürdig. Während ich z.B. von mir erwarten würde, gegebenenfalls auch unter Lebenseinsatz für einen anderen Menschen einzutreten (ob ich dazu allerdings gegebenenfalls den Mut haben würde?), erwarte ich das von einem Familienvater, dessen Angehörige voll von ihm abhängen, nicht: immerhin bin ich über sechzig, meine Kinder sind "versorgt", niemand braucht mich wirklich mehr ... und vor einem (weiteren) Herzinfarkt übermorgen bin ich ohnehin nicht gefeit.
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.