"Über mir ist nur mehr der Himmel" - Gerlinde Kaltenbrunner#
Die österreichische Profi-Bergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner spricht über Gipfelerlebnisse, die Gefahren auf den höchsten Bergen der Welt – und wie sich Einsamkeit auf 8000 Meter Höhe anfühlt.#
Von der Wiener Zeitung (Dezember 2009) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Peter Landerl
Gerlinde Kaltenbrunner: Man taucht in die grüne Oase des Schwarzwaldes und der Rheinebene ein, es ist ein großer Kontrast zu den riesigen Gletschern, zu Fels und Schnee. Ich genieße das Heimkommen, aber ich kann es vor allem deshalb genießen, weil ich weiß, dass ich im nächsten Frühjahr wieder ins Hochgebirge aufbrechen werde. Meine Zeit zu Hause ist ausgefüllt mit Training und Vorbereitungen auf die nächste Expedition.
Wie bereiten Sie sich auf Ihre Touren, die über 8000 Meter Höhe führen, vor?
Mit Ausdauertraining, mit Berg- und Waldläufen, und ich mache sehr oft Touren mit dem Mountainbike oder dem Rennrad. Täglich mehrere Stunden. Dazu mache ich Kletter- und Krafttraining. Das hört sich hart an, aber beim Training ist schon ein großer Spaßfaktor dabei. An den Wochenenden sind mein Mann und ich fast immer in der Schweiz zum Bergsteigen.
tellen Sie sich Ihr Trainingsprogramm selbst zusammen?
Ja, ich höre auf meinen Körper und spüre genau, welches Training ich brauche. Ich könnte mir schon vorstellen, dass ich mit einem professionellen Trainingsplan mehr aus meinem Körper herausholen könnte, aber ich will nicht verbissen ans Bergsteigen herangehen. Natürlich ist das Höhenbergsteigen eine große körperliche Herausforderung, aber im Vordergrund steht für mich immer das Naturerleben am Berg.
Wie wichtig ist die Ernährung in der Vorbereitung?
Ich habe keinen strikten Ernährungsplan, aber ich achte sehr auf meinen Säuren-Basen-Haushalt.
Sie sind zwar auch im Team unterwegs, aber eigentlich eine Einzelsportlerin. Ist man da manchmal einsam?
Einsamkeit ist für mich nicht unbedingt etwas Negatives. Bei meinem letzten Versuch, den K2 zu besteigen, bin ich mehr oder weniger allein zur Schulter aufgestiegen. Diese Einsamkeit habe ich genossen. Ganz allein auf 7000 Meter Höhe, nur die gewaltige und schöne Natur, das war ein ganz spezielles Gefühl: totale Ruhe, keine Angst, ein kleiner Mensch im großen Ganzen.
Wie groß war ihr Team am K2?
Im Basislager waren mein Bergpartner David, ein Koch und ein Hilfskoch. Außerdem ein Koreaner mit zwei Sherpas, eine japanische, eine amerikanische und eine internationale Mannschaft im Basislager. In den vergangenen Jahren waren mehr Teams unterwegs. Dieses Jahr war wohl wegen der Wirtschaftskrise und der politisch instabilen Lage in Pakistan weniger los.
Wie ist die Stimmung im Basislager? Arbeitet man zusammen, sieht man sich als Konkurrenten, belauert man sich?
Ich habe immer ein freundschaftliches Verhältnis zu den anderen Expeditionen. Man bespricht sich, tauscht die Wetterdaten aus. Ich betrachte niemanden als Konkurrenten.
Was macht man den ganzen Tag lang, wenn das Wetter schlecht ist?
Lesen, Musik hören, andere Expeditionen besuchen, sich ausrasten, nachdenken, kleine Wanderungen in Basislagernähe. Oder Krafttraining, etwa Liegestütze im Zelt. Es gibt aber Bergsteiger, die in solchen Situationen die Nerven verlieren.
Was gibt es denn im Basislager zu essen?
In den ersten beiden Wochen gibt es unter anderem frisches Obst und Gemüse, später neben Reis und Nudeln eher Dosen- und Fertiggerichte. Wenn wir lange im Basislager sind, ist der Hilfskoch manchmal fünf, sechs Tage lang unterwegs ins nächste Dorf, um frische Lebensmittel zu besorgen.
Sie haben dieses Jahr zweimal versucht, den K2 zu besteigen. Beide Male mussten Sie umkehren. Wie schwer ist es, diese Entscheidung zu treffen?
Sehr schwer. Man bereitet sich über eine lange Zeit körperlich und mental auf das Ziel vor, ist auf 8000 Meter Höhe angelangt und muss erkennen, dass es einfach zu gefährlich ist, auf den Gipfel aufzusteigen. Man wiegt die Gefahren ab, fragt sich, ob man noch rechtzeitig auf den Gipfel kommt, fragt sich vor allem, ob man genug Zeit hat, wieder herunterzukommen. Diese Entscheidung ist ein langer Prozess, den man da oben durchmacht. Ich versuche, klaren Kopf zu bewahren und nicht die Fehler zu machen, die sehr viele vor mir gemacht haben und dafür mit dem Leben bezahlt haben. Am einfachsten ist die Entscheidung zu treffen, wenn das Wetter umschlägt. Beim ersten Versuch war das Wetter schön, wir haben eine neue Route versucht und sind zu langsam vorangekommen. Da fiel die Entscheidung zum Umdrehen sehr schwer. Beim zweiten Versuch war zu viel Schnee und dadurch die Lawinengefahr einfach zu groß.
Ist der K2 der schwierigste Achttausender?
Ich glaube schon. Am K2 gibt es keinen leichten Anstieg. Und er ist mit 8611 Metern der zweithöchste Berg. Wenn man ohne Sauerstoff unterwegs ist, merkt man extrem, wie der Sauerstoffpartialdruck sinkt.
Kann man in so großen Höhen noch klar denken, oder ist man in Trance?
Ich versuche so viel wie möglich zu trinken, weil das Blut auf solchen Höhen stark eindickt. Je mehr ich trinke, desto klarer bin ich im Kopf. Bisher hatte ich damit keine Probleme.
Wie viel trinken Sie pro Tag?
Fünf, sechs Liter Flüssigkeit, aus Eis oder Schnee geschmolzen.
Wie ist Ihr körperliche Zustand in 8000 Meter Höhe?
Alle Bewegungen sind verlangsamt. Beim Abstieg ist mein Bergpartner David halb in eine Spalte gefallen und ich wollte zu ihm hinlaufen, um ihm zu helfen – doch nach nur drei Schritten war ich völlig außer Atem.
Sind Sie oft gemeinsam mit ihrem Mann Ralf Dujmovits unterwegs, der schon alle Achttausender bestiegen hat?
Wir haben fünf Achttausender gemeinsam bestiegen. In letzter Zeit waren wir öfter getrennt unterwegs. Im nächsten Frühling werden wir aber wieder gemeinsam aufbrechen, worauf ich mich sehr freue.
Was machen Sie, wenn Sie auf einem Gipfel angelangt sind?
Wenn es stürmt und eisig kalt ist, bleibe ich höchstens zehn Minuten auf dem Gipfel. Es gab aber auch schon Gipfelbesteigungen, wo ich über eine Stunde oben geblieben bin. Dann fühle ich eine unbeschreibliche Freude, über mir ist nur mehr der Himmel, unter mir sind die anderen Gipfel und Wolken. Der Gedanke an den Abstieg ist relativ schnell wieder da. Die ganz große Freude und Entspannung kommt erst im Basislager.
Was erfordert mehr Konzentration, der Aufstieg oder der Abstieg?
Für den Abstieg braucht man mindestens genauso viel Konzentration wie für den Aufstieg..
Was ist eigentlich das Gefährlichste am Wetter? Wind, Nebel, Schnee?
Alles ist gefährlich. Zu starker Sturm ist lebensgefährlich, es gab Bergsteiger, die einfach vom Sturm weggeblasen wurden. Nebel kann sehr gefährlich sein, wenn man kein GPS verwendet oder Markierungsfähnchen. Ich habe immer Markierungsfähnchen mit, weil mir einmal das GPS ausgefallen ist. Gerade am K2 sind viele Bergsteiger verunglückt, weil sie im Abstieg die Route nicht mehr gefunden haben. Viel Schnee erhöht natürlich die Lawinengefahr.
Wie weit ist die Welt weg, wenn man am Berg ist?
Wenn ich im Aufstieg bin, bin ich in meiner eigenen Welt, lasse alles hinter mir, konzentriere mich nur auf das "Jetzt". Im Basislager denke ich natürlich öfter an die Heimat und meine Familie. Wenn das Zelt aufgebaut ist, der Kocher zum Schneeschmelzen läuft und es windstill ist, wünsche ich mir oft, dass meine Familie und Freunde das auch spüren oder erleben könnten. Mit Worten sind die intensiven Gefühle am Berg kaum zu vermitteln.
Wird man als Frau am Berg ernst genommen?
Lange war das kein Thema für mich. Rückblickend kann ich aber sagen, dass ich lange Zeit nicht wahrgenommen wurde.
Wie viele Profi-Höhenbergsteigerinnen gibt es denn heute?
Ich kann es nicht ganz genau sagen, aber nur sehr wenige.
Und wie wird man eigentlich Profi-Bergsteigerin?
Nach meiner Besteigung des Nanga Parbat ist ein kleiner Artikel darüber in der Zeitschrift "Klettern" erschienen, daraufhin bekam ich mehrere Interviewanfragen. Ich konnte erste Sponsorverträge abschließen und die Anfrage für Diavorträge stieg. Damals wagte ich den Schritt, meine große Leidenschaft zum Beruf zu machen. Anfangs war es nicht einfach, aber heute kann ich davon leben.
Gibt es Doping beim Bergsteigen?
Es gibt darüber keine Untersuchungen, aber ich möchte nicht wissen, wie viele Bergsteiger irgendwelche Substanzen schlucken. Ich finde das äußerst gefährlich. In dem Moment, wo man etwas einnimmt, verschleiert man etwas im Körper. Schon oft sind Bergsteiger einfach tot umgefallen.
Haben Sie schon Bergsteiger gesehen, bei denen Sie sich gedacht haben, die haben in diesen Höhen überhaupt nichts zu suchen?
Ja, speziell am Lhotse. Da ist die Aufstiegsroute bis auf 7600 Meter die gleiche wie auf den Mount Everest. Dort sieht man Leute, die schon ab 5500 Meter mit künstlichem Sauerstoff aufsteigen, zwei Sherpas dabei haben, die ihnen die Rucksäcke tragen. Das ist für mich nicht Bergsteigen. Diese Leute wollen einfach mit allen Mitteln den höchsten Berg der Welt besteigen. Ich finde es ehrlicher, einen Sechstausender aus eigener Kraft zu schaffen als einen Achttausender nur mit fremder Hilfe. Ich frage mich oft, was diese Menschen antreibt.
Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Bergsteigen Ihr Leben ist?
Vor meinem ersten Achttausender war ich hauptsächlich in den Ostalpen unterwegs. Da habe ich aber schon gemerkt, dass ich das Bergsteigen liebe. Der Traum, einen wirklich hohen Berg zu besteigen, kam mit etwa 20 Jahren. Die Broad Peak-Expedition, bei der wir zu dritt auf dem Vorgipfel standen, war dann wahrscheinlich ausschlaggebend. Als ich vom Berg ins Basislager zurückkam, habe ich erst einmal 14 Stunden geschlafen, und als ich dann aufwachte, habe ich gedacht: Was kann ich tun, damit ich möglichst bald wieder aufbrechen kann? Das Karakorum-Massiv ist eine wirklich wilde, eine faszinierende Hochgebirgslandschaft.
Damals arbeiteten Sie aber noch als Krankenschwester.
Ja, ich war Krankenschwester in Rottenmann in der Steiermark. Natürlich war es schwierig, so lange frei zu bekommen und Geld zu sparen für eine Expedition. Ich weiß noch, dass ich nach dem Broad Peak in ein richtiges Loch gefallen bin. Der Norden Pakistans ist eine wirklich arme Gegend, die Leute leben in Lehmhütten, es hat eine Zeit lang gedauert, bis ich mich in Österreich wieder zurechtgefunden habe. Ich hatte damals den Plan, Entwicklungshilfe in Pakistan zu machen, habe sogar das örtliche Krankenhaus besucht, wo die Hühner im Operationssaal herumgelaufen sind und es keine Medikamente gab. Ich wollte das selbst organisieren, aber es hat leider nicht funktioniert.
Fühlt man sich als gut ausgerüstete Bergsteigerin in solch armen Gebieten nicht als Außerirdische?
In den ersten Jahren hatte ich so ein Gefühl, denn ich wurde von den Einheimischen mit großen Augen angeschaut. Mittlerweile sind relativ viele Bergsteiger unterwegs und die Einheimischen haben sich an uns gewöhnt. Natürlich profitieren sie finanziell von den Bergsteigern, verdienen Geld als Träger. Es ist für die Leute dort eine Katastrophe, dass heuer die Bergsteiger ausgeblieben sind.
Profitieren Sie am Berg von Ihrer Ausbildung als Krankenschwester?
Ja, sehr. Bei jeder Expedition passiert irgendetwas, und dann kann ich auf mein medizinisches Wissen zurückgreifen. Ich habe auch immer eine große Apotheke mit.
Im Sport wie auch in unserer Gesellschaft regiert das Prinzip "Schneller, höher, weiter". Welche neuen Herausforderungen und Ziele gibt es denn noch im Alpinismus?
Ich möchte bei diesem "Schneller, höher, weiter" nicht mitmachen. Ein neuer Trend sind momentan die Speed-Besteigungen, bei denen es darum geht, einen Berg so schnell wie möglich zu besteigen. Mit dem klassischen Bergsteigen hat das aber nichts mehr zu tun. Diese Bergsteiger schauen nicht nach links und rechts, haben nur die Zeit im Kopf, die sie vom Basislager zum Gipfel und wieder zurück brauchen.
Sie sind mittlerweile sehr populär, der ORF hat eine Dokumentation über Sie gedreht. Wo haben Sie denn Ihre größten Fans?
Natürlich in Österreich und in Deutschland. Ich erhalte viele Zuschriften und Einladungen zu Vorträgen. Aber auch in Italien, in Spanien und in Polen gibt es Leute, die sich für mich interessieren. Dass ich in Polen populär bin, hängt wahrscheinlich mit Wanda Rutkiewicz, der polnischen Höhenbergsteigerin, die 1992 am Kangchendzönga verschwunden ist, zusammen.
Gehen Sie, wenn Sie in Österreich sind, auch Bergsteigen?
Immer. Pyhrgas und Bosruck sind direkt vor meiner Haustüre. Bei jedem Besuch besteige ich die beiden. Ich bin auch oft zum Klettern im Gesäuse oder im Gebiet um den Dachstein. Die Ausrüstung ist jedenfalls immer mit dabei.
Welchen Berg würden Sie Touristen, die in Ihre Heimat Spital am Pyhrn kommen, empfehlen?
Bergwanderern würde ich den Großen Pyhrgas empfehlen. Das war einer der ersten Berge, die ich bestiegen habe. Auf dem Gipfel hat man einen wunderschönen Ausblick. Anspruchsvolleren würde ich den Aufstieg auf den Bosruck über den Ostgrat empfehlen.
Zur Person:#
Gerlinde Kaltenbrunner, geboren 1970, ist Profi-Bergsteigerin. Die in Spital am Pyhrn aufgewachsene und heute in Bühl im Schwarzwald lebende Österreicherin hat bereits 12 von 14 Achttausendern bestiegen, zwei Besteigungsversuche des K2 sind im letzten Sommer gescheitert. Im kommenden Frühling will sie den Mount Everest besteigen.
Ihre Leidenschaft für die Berge weckte der Spitaler Gemeindepfarrer, der sie zu Bergtouren in die Umgebung mitnahm. Während ihrer Arbeit als Krankenschwester in Rottenmann machte sie, so oft es ihr möglich war, Berg-, Schi- und Klettertouren in den Ost- und Westalpen. Mit 23 Jahren stand sie auf ihrem ersten Achttausender, dem Broad Peak Vorgipfel in Pakistan. Seit der Besteigung des Nanga Parbat im Jahr 2003, ihres fünften Achttausenders, lebt sie als Profibergsteigerin. Kaltenbrunner ist stets ohne künstlichen Sauerstoff und ohne Träger unterwegs. Sie ist verheiratet, ihr Mann Ralf Dujmovits ist ebenfalls Bergsteiger und hat bereits alle Achttausender bestiegen.
Im Münchner Malik-Verlag ist ihre Autobiografie "Ganz bei mir. Leidenschaft Achttausender" erschienen.
Peter Landerl, geboren 1974, ist Literaturwissenschafter und arbeitet als Lektor an der Universität Marc Bloch in Straßburg