Eine Überdosis Draußen #
In England sperrte sich der Couchsurfer Stephan Orth komplett aus. Obwohl er 700 Kilometer reiste.#
Von der Wiener Zeitung (8. September 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Sabine Ertl
Um der Pandemiemüdigkeit ein Schnippchen zu schlagen, ist der Couchsurfer auf und davon. Geradewegs nach England. Mit dieser fast trotzigen Reaktion erschließt er eine neue Art des Reisens. Wie diese aussieht und warum sein Aufenthalt auf der Insel an Skurrilität nicht zu überbieten ist, darüber hat er mit der "Wiener Zeitung" gesprochen.
"Wiener Zeitung": Sie haben sich bewusst gegen Ihre Pandemiemüdigkeit aufgebäumt. Sind Sie nun geheilt?
Stephan Orth: Tatsächlich ging es mir während meiner Englandreise so gut wie lange nicht. Die vorherigen 15 Monate Pandemie hatten mich ganz schön träge gemacht, ich erkannte mich selbst nicht wieder, weil meine ganze Unternehmenslust weg war. Einfach rauszugehen und fünf Wochen an der frischen Luft zu verbringen, war das Beste, was ich tun konnte. Ob das nun eine "Heilung" war oder nicht - das Tolle ist, dass ich eine solche Reise jederzeit wiederholen könnte, selbst in der nächsten kritischen Pandemielage.
In England haben Sie sich bewusst ausgesperrt: Niemals einen Innenraum noch ein geschlossenes Fahrzeug betreten. Hat es sich gelohnt?
Klar war das mühselig, wenn ich in einer Kleinstadt kein Restaurant mit Biergarten fand und ein paar Stunden hungern musste bis zum nächsten Ort. Wenn ich dann vor dem Eingang eines Tesco-Supermarktes stand und mich zwang, nicht über die Schwelle zu gehen, kam ich mir schon ein wenig bescheuert vor.
Vom bekannten Couchsurfer zum Landstreicher . . .
Couchsurfing ist leider keine geeignete Art zu reisen, wenn die Corona-Zahlen hoch sind. Da geht man nicht so gern von einer Privatwohnung zur nächsten, um viel Zeit mit den Menschen zu verbringen, außerdem ist es schwerer, Gastgeber zu finden. Also habe ich diesmal jede Nacht im Zelt verbracht. Aber ganz konnte ich doch nicht raus aus meiner Haut. Über Online-Netzwerke habe ich Gastgeber gefunden, die mir ein Stück Rasen im Garten statt ihrer Couch zur Verfügung stellten.
Sie fühlten sich derart "frei" - obwohl Sie sich in einen selbstgewählten "Lock-out" begeben haben. Können Sie dieses Gefühl beschreiben?
Die Freiheit bestand darin, nicht abhängig davon zu sein, dass ich nachts ein Hotel, Hostel oder eine Privatunterkunft brauchte. Mit der Zeit wurde das Wildcampen so zur Gewohnheit, dass ich mir keine Sorgen mehr machte, einen geeigneten Platz zu finden. Das ergab sich schon. Wenn man auf einmal keine Wände und Decken mehr braucht und merkt, dass man damit zurechtkommt, wirkt das extrem befreiend. Ich lag in meinem 1,6-Quadratmeter-Zelt und fühlte mich nicht eingeengt, sondern hatte das Gefühl, die ganze Umgebung gehört mir.
Wandern, radeln, paddeln und zelten. Sind Sie sportlicher geworden?
Das nicht, ich habe vor zehn Jahren mal eine Expedition aufs grönländische Inlandeis gemacht, da war ich fitter. Diesmal hatte ich nicht vorher trainiert, aber unterwegs spürte ich, dass es mir körperlich jeden Tag besser ging. Wobei es bei dieser Reise nicht darum ging, ständig die eigenen Grenzen auszuloten und möglichst viele Tageskilometer zu schaffen. Viel wichtiger fand ich aber die Begegnungen, die mir mein Perspektivwechsel ermöglichte.
Ihre Geschäftsidee: Ein Reiseunternehmen gründen, das Urlaub vom Menschen für den Planeten anbietet.
Nun, man könnte einfach seinen durchschnittlichen täglichen CO2-Footprint ausrechnen und dann eine Reise vorschlagen, die nur die Hälfte, ein Drittel oder ein Zehntel an Schaden anrichtet. Wenn das dann auch noch ein bisschen Spaß macht und man was für den Alltag lernt, glaube ich, dass viele Leute buchen würden.
Revolutionär ist Ihr Gedanke, dass ein paar Tage Draußensein Teil des Schullehrplans werden sollte.
Es gibt längst wissenschaftliche Studien dazu, wie wertvoll ein Outdoor-Abenteuer für das Selbstbewusstsein, für die Problemlösekompetenz und für die mentale Gesundheit sein kann. Weil es da draußen zwar einige Stressmomente gibt, sich dieser Stress aber meistens relativ bald in Erfolgserlebnisse verwandelt. Ganz anders als im Alltag, wo uns viele Stressfaktoren über Tage oder Wochen belasten.
In den 35 Tagen mit 12 Kilo Gepäck am Rücken haben Sie Ihren "Kampfgeist" wiederentdeckt.
Ja, der war mir in der Pandemiemüdigkeit irgendwo zwischen Küche, Bad und Netflix-Bildschirm ein bisschen abhandengekommen. Dann paddelte ich im Kajak stundenlang über die Themse, hatte keine Kraft und keine Snacks und noch viele Kilometer mit heftigem Gegenwind vor mir. Mir fiel auf, dass ich seit Monaten keine Situation erlebt hatte, in der ich körperlich alles geben musste, um ans Ziel zu kommen. In dem Moment entdeckte ich Kräfte in mir, die ich nicht erwartet hätte.
Ein Lob an Ihr Fahrrad "Free Spirit".
"Free Spirit" war ein absoluter Glücksfall. Ein Gastgeber schenkte mir ein altes Fahrrad, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte, und plötzlich war ich dreimal so schnell unterwegs wie vorher. So konnte ich eine viel interessantere Route machen, als wenn ich nur zu Fuß gegangen wäre, und mehr vom Land sehen. Aber ohne das Rad wäre ich einfach stur weitergewandert. Ich hatte mir jedoch ein Zeitlimit gesetzt: Innerhalb von fünf Wochen musste ich Newcastle erreichen, weil ich dort ein Fährticket gebucht hatte.
Sie setzen sich mit Brexit-Fans auseinander. Jene, die "Ihr einst Gelobtes Land" entzaubert haben.
Mit einem Paar hatte ich ein interessantes Abendessen. Ein wegen Covid verhinderter Gastgeber hatte mich an seine Eltern weitervermittelt, die in einem Bauerndorf nördlich von Oxford leben. Der Vater schaffte es ständig, von allen Gesprächsthemen direkt zum Brexit überzuleiten. Er fand es nicht schlimm, dass nun die Supermarktregale leerer waren, weil niemand 20 Sorten Baked Beans brauche und vor 50 Jahren ja auch keiner verhungert sei, als es noch keine Bohnen aus Kenia gab. Er wunderte sich, dass nun keine Bulgaren und Rumänen mehr kommen, um die Billigjobs zu machen, weil doch ihre Heimatländer so elend seien, und äußerte sich rassistisch über Einwanderer. Er verwickelte sich in Widersprüche. Nachdem er dafür geworben hatte, nur noch Lebensmittel aus Großbritannien zu essen, standen beim Frühstück drei Dinge auf dem Tisch: deutsche Capri Sonne, ein Joghurt von Müller und Milch mit Aldi-Logo.
Sie sind mit Obdachlosen, Lebenskünstlern und Umweltaktivisten ins Gespräch gekommen. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?
Ein Mann namens Alan, der seit neun Jahren fast immer in einem Zelt am Fluss Tyne lebt. Er arbeitet als Aufpasser in einem Angelclub und als Kfz-Mechaniker im Busdepot und philosophiert gerne über holistische Heilung und darüber, was es für eine Schande ist, wie die Menschen mit ihrem Planeten umgehen. Während er selber mit seinem Lebensstil am Rande der Gesellschaft viel weniger ökologischen Schaden anrichtet als der Rest der Bevölkerung. Auf manchen Luxus verzichtete er nicht. Gerade hatte er sich ein Mountainbike gekauft, das neu 4.000 Euro kostet.
Wo sehen Sie die Zukunft des Reisens?
Der gesellschaftliche Druck wird größer werden, weniger Flugreisen zu machen und mehr auf Nachhaltigkeit zu achten. Veranstalter werden erfolgreich sein, wenn sie ökologisches Engagement glaubhaft kommunizieren. Vielleicht werden wir uns mehr fragen, ob das "Wie" beim Reisen nicht wichtiger ist als das "Wo", und ob Fernreisen und Passstempelsammlungen noch als Statussymbol taugen. Aber seien wir realistisch: Vieles hängt schlicht von den Preisen ab. Wenn man weiter für 30 Euro nach Mallorca kommt oder für 450 nach Bangkok inklusive Rückflug, wird das auch genutzt werden.