Der Jäger Gracchus#
Über Franz Kafka – 1883 in Prag geboren und 1923 in Kierling bei Klosterneuburg verstorben – muss nicht extra viel gesagt werden. Seine unvollendete Erzählung „Der Jäger Gracchus“ (1917) gehört wohl zum Seltsamsten, was die Jagdmotivik aufzubieten hat. Sie erzählt von einem Toten, der nicht zur Ruhe kommen kann.#
Mit freundlicher Genehmigung der ANBLICK-Redaktion (Februar 2022)
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Die literarische Bedeutung von Franz Kafka für das 20. Jahrhundert ist unbestritten, und der Ausdruck „kafkaesk“ ist längst in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Seine Prosa wird durch das Unheimliche, Vergebliche und Absurde menschlicher Existenz charakterisiert. „Der Jäger Gracchus“ gehört wohl zum Seltsamsten, was die Jagdmotivik aufzubieten hat. Man könnte fast den Eindruck haben, in einem alten gespenstischen Stummfilm zu sein, wenn Kafka loslegt.
„Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus. In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür- und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein. Der Wirt saß vorn an einem Tisch und schlummerte. Eine Barke schwebte leise, als werde sie über dem Wasser getragen, in den kleinen Hafen. Ein Mann in blauem Kittel stieg ans Land und zog die Seile durch die Ringe. Zwei andere Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen trugen hinter dem Bootsmann eine Bahre, auf der unter einem großen blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag.
Auf dem Quai kümmerte sich niemand um die Ankömmlinge, selbst als sie die Bahre niederstellten, um auf den Bootsführer zu warten, der noch an den Seilen arbeitete, trat niemand heran, niemand richtete eine Frage an sie, niemand sah sie genauer an.
Man befindet sich in Riva, dem am nordwestlichen Ufer des Gardasees hingelagerten idyllischen Städtchen und man verbringt die Bahre sogleich in ein nahe dem Ufer gelegenes Schulgebäude. Sogleich erscheint dann der Bürgermeister Salvatore mit schwarzem Zylinder, dem eine Taube nachts die Ankunft des Toten angekündigt hatte, und nimmt diesen in Augenschein, nachdem Totenkerzen entzündet worden waren.
Von der Bahre war das Tuch zurückgeschlagen. Es lag dort ein Mann mit wild durcheinandergewachsenem Haar und Bart, gebräunter Haut, etwa einem Jäger gleichend. Er lag bewegungslos, scheinbar atemlos mit geschlossenen Augen da, trotzdem deutete nun die Umgebung an, daß es vielleicht ein Toter war.
Der Bürgermeister betet an der Bahre, auch der Bootsführer geht dann ins Nebenzimmer. Sogleich erwacht der Jäger zu neuem Leben und führt mit Salvatore ein bizarres Gespräch. Auf die Frage, ob der Jäger Gracchus nun denn wirklich tot wäre, antwortet dieser: ‚Ja‘, sagte der Jäger‚ wie Sie sehen. Vor vielen Jahren, es müssen ungemein viel Jahre sein, stürzte ich im Schwarzwald – das ist in Deutschland – von einem Felsen, als ich eine Gemse verfolgte. Seitdem bin ich tot.‘ ‚Aber Sie leben doch auch‘, sagte der Bürgermeister. ‚Gewissermaßen‘, sagte der Jäger, ‚gewissermaßen lebe ich auch. Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, daß ich auf der Erde blieb und daß mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt. So reise ich, der nur in seinen Bergen leben wollte, nach meinem Tode durch alle Länder der Erde.‘“
Franz Kafka setzt diese gespenstische Unterhaltung noch lange fort. Am Schluss dieser unvollendeten Erzählung und auf die nochmalige Frage des Bürgermeisters, ob der Jäger Gracchus denn nun gedenke, in Riva bleiben zu wollen, antwortet dieser nur vage: „‚Ich gedenke nicht‘, sagte der Jäger lächelnd, und legte, um den Spott gutzumachen, die Hand auf das Knie des Bürgermeisters. ‚Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.‘“
Kafka kannte Riva gut, denn er hatte den Ort aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit vor dem Ersten Weltkrieg mehrmals besucht, um in einer dortigen Reform-Kuranstalt Erleichterung zu finden. Nur wenige Jahre später sollte er qualvoll an Kehlkopf-Tuberkulose sterben. Was die Interpretation dieser wunderlichen Geschichte betrifft, so ist naheliegend, dass sein Bootsmann der mythologische Charon ist, sein Name Gracchus wohl vom italienischen Wort gracchhio, also Dohle, herstammt. Die ihn ankündigende Taube könnte als Heiliger Geist verortet werden. Der nur halbtote Jäger selbst erinnert an eine berühmte Horrorgeschichte von Edgar Allan Poe, „Die Tatsachen im Fall Waldemar“, die Kafka sicher kannte. Gracchus aber ist gewissermaßen der ewig wandernde Ahasver, der Wilde Jäger oder auch der unerlöste Fliegende Holländer.
Sehr interessant ist auch die Bemerkung des Jägers Gracchus im Text, dass er schon seit Jahrhunderten in einem Art Zwischenreich wohne. Die Gämsen nämlich, um die es im größten zusammenhängenden Mittelgebirge Deutschlands an der Grenze Frankreichs auch geht, wurden dort bis zum Ende des Spätmittelalters gänzlich ausgerottet. In dieser Region Baden-Württembergs wurden sie in einem großangelegten Naturschutzprojekt erst in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wiederangesiedelt. Dies freilich unter ökologisch bedenklichen Umständen, denn der Verbiss dieses relativ hohen Bestandes hat den dortigen Tannen und Buchen ordentlich zugesetzt. Davon konnte ja nun der Dichter nichts wissen, da er doch 15 Jahre vorher verstorben war. Also wird er sich wahrscheinlich auf historische Quellen bezogen haben. Und dass die Gämse einstmals als ein Sinnbild weiblicher Verführungskunst galt, hat er dies vielleicht auch gewusst?