"Science-Fiction ist oft verblüffend prophetisch"#
"SF"-Experte Franz Rottensteiner über die Faszination des Genres, den Unterschied zwischen Phantastik und Fantasy - und sein schwieriges Verhältnis zu Stanisław Lem.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 17. September 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Piotr Dobrowolski
"Wiener Zeitung": In den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war Science-Fiction fester Bestandteil des literarischen Lebens. Heute drängt das Phantastische zwar zunehmend in alle möglichen Bereiche der Literatur ein, von Joanne K. Rowling über Carlos Ruiz Zafón bis Thomas Glavinic, als Genre scheint Science-Fiction aber out zu sein. Würden Sie diesem Befund zustimmen?
Franz Rottensteiner: Weitgehend schon. Wobei man natürlich sagen muss, dass es das Phantastische in der Literatur immer schon gegeben hat und gerade Autoren, die wegen ihres Realismus bekannt waren, auch ganz tolle phantastische Texte geschrieben haben. Denken Sie etwa an Dickens oder Gogol. Und dann muss man auch noch unterscheiden zwischen Science-Fiction, oder etwas breiter: Phantastik, einer Gattung, wo das Hauptkennzeichen der Einbruch des Übernatürlichen in unsere gewohnte Welt ist, und Fantasy, also Texten, die von Anfang an in einer anderen Welt spielen, die mit unserer Welt nichts zu tun hat. Im Gegensatz zur Phantastik habe ich den Eindruck, dass Fantasy floriert. Jedes Jahr erscheinen dicke Wälzer und haben großen Erfolg. Und das, obwohl die Leute angeblich immer weniger Zeit zum Lesen haben.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Vielleicht diese hier: Die klassische Science-Fiction, das sind sehr oft Kurzgeschichten, Novellen, Anthologien. Da muss sich der Leser alle zehn, zwanzig Seiten auf eine neue Erzählsituation einstellen. Das ist anstrengend. Bei einem Roman verbleibt er hingegen über Hunderte von Seiten in einem vertrauten Raum. Deshalb hat sich von den verschiedenen SF-Genres auch die sogenannte Space Opera - wie etwa "Star Trek" und "Star Wars" - relativ gut halten können. Denn auch hier bleibt die fiktive Rahmen-Welt stets gleich.
Solche Texte eignen sich außerdem gut für Verfilmungen.
Ja, und heute ist sehr oft der Film die treibende Kraft für den Erfolg von SF-Büchern. Fast noch wichtiger sind aber inzwischen Computerspiele. Der neue russische SF-Star Dimitry Glukhovsky hätte nie einen weltweiten Erfolg mit seiner "Metro 2033" erreichen können, wenn es das dazugehörige Computerspiel nicht gegeben hätte. Inzwischen ist ja ein ganzes Universum von Texten entstanden, die in der Welt von Metro 2033 spielen und die längst nicht nur von Glukhovsky, sondern auch von anderen Autoren stammen. Ähnlich war es bei den "Wächter"-Romanen von Sergej Lukianenko. Auch die wären ohne Film und Computerspiel nie so populär geworden.
Die klassische SF-Geschichte, in der wie etwa bei Isaac Asimov oder Stanisław Lem die Helden vor grundlegende philosophisch-moralische Entscheidungen gestellt werden und die SF-Welt dabei gewissermaßen als Katalysator dient, gibt es heute aber kaum noch.
Das würde ich nicht sagen, aber solche Texte werden heute meist nicht als Science-Fiction wahrgenommen und rezipiert. Nehmen Sie zum Beispiel "Alles, was wir geben mussten" von Kazuo Ishiguro, einen Text, der von vielen Kritikern zu den besten Romanen gezählt wird, die seit der Jahrtausendwende geschrieben wurden. Der Roman hat völlig zu Recht einen Riesenerfolg gehabt. Doch nur den wenigsten ist dabei klar gewesen, dass sie es eigentlich mit einem Science-Fiction-Text zu tun hatten. Vielleicht liegt das auch daran, dass SF-Elemente heute in unserem Alltag so allgegenwärtig sind, in Filmen, in der Werbung, in der Elektronik, dass man sie in der Literatur gar nicht mehr bewusst merkt. Wobei es vielleicht auch nicht so wichtig ist, denn die wirklich guten Texte überleben so oder so.
Das Problem ist bloß, dass man sie erst finden muss.
Ja, das stimmt - und das kann sehr mühsam sein, weil es im Science-Fiction-Bereich nur wenige professionelle Kritiker gibt, die den Leser durch die Vielzahl an Neuerscheinungen führen und für ihn eine Vorauswahl treffen.
Als Herausgeber der "Phantastischen Bibliothek" bei Suhrkamp und auch als Betreiber der bis heute erscheinenden Zeitschrift "Quarber Merkur" sind Sie allerdings jemand, der das selbst jahrelang gemacht hat.
Trotzdem ist das, was ich über Science-Fiction geschrieben habe, nur einem kleinen Kreis bekannt. Und ich bin mir auch nicht sicher, wie wichtig dieser Kreis meine Empfehlungen nimmt, ob er ihnen folgt. Ein anderer Punkt, der die Orientierung innerhalb der SF-Literatur schwierig macht, ist die Tatsache, dass es keine wirklich dominierenden Strömungen gibt. In dieser Literatur, die Tausende von Kurzgeschichten, Romanen, Novellen jährlich hervorbringt, scheint nichts überwunden, nichts endgültig erledigt, die unterschiedlichsten Formen kehren immer wieder zurück. Immer wieder gibt es in dieser Literatur aber auch Texte, in denen Probleme aufgeworfen und in einer Tiefe behandelt werden, wie man sie von einer Massenliteratur niemals erwarten würde. Das hat mich schon als ganz junger Mensch fasziniert.
Weil Science-Fiction in ihren besten Ausprägungen eine ausgesprochen philosophische Form von Literatur ist?
Ja, das auch. Der heute wieder etwas mehr beachtete deutsche Philosoph Gotthard Günther hat zum Beispiel in den 1950er Jahren im Rauch-Verlag eine der ersten deutschsprachigen SF-Reihen herausgegeben. Da waren unter anderem Texte von Isaac Asimov, Jack Williamson, Lewis Padgett dabei - und er hat sie mit einem unglaublich tiefgründigen philosophischen Nachwort versehen, das zeigte, wie viel in diesen Geschichten steckt, auch wenn das den meisten Lesern verborgen bleibt.
Welche Geschichten haben Sie persönlich in Ihrer Jugend so fasziniert, dass sie letztlich ein Leben lang bei SF geblieben sind?
Da gibt es so viele. Aber ganz wichtig war "Einbruch der Nacht" von Isaac Asimov, die Geschichte von einem Planeten, der von mehreren Sonnen beschienen wird, sodass es dort permanent Tag ist. Nur ganz selten kommt eine Konstellation zustande, wo andere Planeten die Sonnen verdecken und die Sterne zum Vorschein kommen. Doch die Bevölkerung des Planeten reagiert darauf nicht mit Verehrung oder Bewunderung der Sterne, sondern mit Panik, man sieht statt eines Naturwunders das Ende der Welt kommen. Solche Geschichten haben mich sehr fasziniert. Auch "Die Flucht" von Simak Clifford, wo Menschen entdecken, dass es am Jupiter Lebewesen gibt und sie sich in diese Wesen verwandeln können. Sobald sie die Gestalt der Außerirdischen angenommen haben, erleben die Menschen die Welt ganz anders, viel intensiver.
Diese beiden Geschichten haben mich auch deshalb beeindruckt, weil sie literarisch spannend sind. Das ist nicht unbedingt für jeden Leser von SF ein wichtiges Kriterium. Viele SF-Fans waren und sind Naturwissenschafter, die sich weniger für das Literarische und mehr für die technischen Ideen interessieren, die in solchen Büchern vorgetragen werden. Und da gibt es ja tatsächlich immer wieder verblüffende, fast möchte man sagen: prophetische, Einfälle.
Sie selber sind aber kein Naturwissenschafter.
Nein, ich wollte zwar nach der Matura Physik studieren, bin dann aber gewissermaßen in schlechte Gesellschaft geraten. Ich habe Leute kennen gelernt, die sich sehr für Science-Fiction interessiert haben, die damals bei uns kaum bekannt war, und sie im Original lasen. Das hat mich derart begeistert, dass ich dann statt Physik doch Publizistik, Anglistik und Geschichte studiert habe. Aber es hätte nicht besser kommen können, denn so habe ich in der Folge all das machen können, was ich gemacht habe.
Auch Stanisław Lem war als Arzt eher Naturwissenschafter denn Schöngeist. Wie kam es dazu, dass Sie sein literarischer Agent wurden? Hat er Sie von Anfang an in seinen Bann gezogen?
Nein, gar nicht. Die ersten Geschichten, die ich von ihm gelesen habe, fand ich zwar gut, aber kaum anders als die breite Masse der damaligen Science-Fiction-Produktion. Dass er eine besondere Erscheinung ist, hat sich erst später gezeigt, mit den "Sterntagebüchern" und den "Robotermärchen", da wurde deutlich, dass Lem etwas ganz Neues und Eigenständiges zur SF-Gattung beigetragen hat. Mein erster direkter Kontakt mit ihm kam zustande, als ich im "Quarber Merkur" den "Unbesiegbaren" besprochen habe und Lem ein Exemplar der Besprechung zuschickte. Daraus entstand ein voluminöser, intensiver Briefwechsel, und ich erkannte Lems singuläre Bedeutung. Später, als ich beim Insel-Verlag die Reihe "Science Fiction der Welt" betreute, wollte ich ihn unbedingt dabei haben. Mir war wichtig, dass die Reihe möglichst international angelegt ist und so haben wir nicht nur Amerikaner wie Philip K. Dick oder Cordwainer Smith, sondern eben auch die Strugatzkis, den Japaner Kobo Abe, den Österreicher Herbert W. Franke und Lem gebracht. Und daraus hat sich dann das Ganze entwickelt.
Wobei Lem eine ziemliche Primadonna gewesen sein soll.
Ja, bei einem seiner Besuche in Deutschland war er zum Beispiel ganz empört darüber, dass er nicht vom Verlagsdirektor, dem legendären Siegfried Unseld, begrüßt wurde, sondern von dessen Stellvertreter. Der wiederum war von der nervenaufreibenden Art Lems so zermürbt, dass er - so erzählte man sich das jedenfalls im Verlag - während dieses Besuchs einen nagelneuen BMW beim Einfahren in die Garage zertrümmert hat. Lem war schon ein schwieriger Mensch. Er war einerseits sehr großzügig, andererseits konnte er extrem geizig sein. Er hatte eine Art von Feudalherren-Charakter und hat einem immer das Gefühl gegeben, dass es eine unglaubliche Ehre ist, für ihn zu arbeiten, und man das eigentlich auch ohne Bezahlung machen sollte. Außerdem war er sehr schnell beleidigt. In Polen hat er permanent Briefe an Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, denen er wegen irgendwelcher Kleinigkeiten die Zusammenarbeit aufkündigte.
Ihre Zusammenarbeit mit Lem hat Sie letztlich auch vor Gericht geführt.
Da ging es zuerst um einen Vertrag in den USA, dem Lem zuerst zugestimmt hat und den er dann auf einmal doch nicht unterschreiben wollte. Und später auch um den Briefwechsel zwischen Lem und mir, den ich einer polnischen Universitätsbibliothek, die auf Nachlässe von Autoren spezialisiert ist, stiften wollte. Lem wollte, dass ich eine Unterlassungserklärung unterschreibe und mich verpflichte, für den Fall, dass ich die Briefe doch weitergebe, eine Pönale von 500.000 Schilling zahle. Das war damals eine wirklich große Summe. Am Ende hat er in beiden Fällen den Prozess gegen mich verloren.
Mit dieser gerichtlichen Auseinandersetzung war Ihre Tätigkeit für Lem beendet.
Ja, wobei er noch, während wir wegen dieser USA-Sache prozessierten, wollte, dass ich ihn in anderen Ländern vertrete. Aber das hat mich nicht mehr interessiert. Wir haben uns im Hotel Sacher getroffen, da ging er immer hin, wenn er in Wien war, und dort hat er sich von mir das Geld, das von den Verlagen kam, bringen lassen. Im damaligen kommunistischen Polen waren das Riesensummen. Und weil Lem durchaus Beziehungen hatte, hat er sich mit diesem Geld eine Villa im bayrischen Stil in der Nähe von Krakau gebaut. Das Bad war mit Carrara-Marmor ausgestattet, das hat der Architekt von den gerade stattfindenden Renovierungsarbeiten am Krakauer Königsschloss abgezweigt . . . Lem sah sich gern als Verfolgter. Ich habe aber nicht das Gefühl gehabt, dass er es in Polen besonders schwer gehabt hätte. Er war schon im Kommunismus ein Nationalheld. Ganz anders als die Brüder Strugatzki, denen man in der Sowjetunion viel mehr Probleme gemacht hat.
Lem und die Strugatzkis gehören heute zum Science-Fiction-Kanon. Hätten Sie weitere Lesetipps?
Von den älteren Sachen ist auf jeden Fall "Planet der Habenichtse" von Ursula le Guin lesenswert. Das Buch soll nächstes Jahr übrigens in einer Neuauflage unter dem Titel "Freie Geister" bei S. Fischer erscheinen. Die "Wilde Schafsjagd" sowie "Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt" von Haruki Murakami sind ebenfalls zwei großartige Romane, die ich durchaus dem SF-Bereich zuordnen würde, wie übrigens auch vieles andere, das Murakami schreibt. Im Golkonda-Verlag sind auf Deutsch die meisten Erzählungen von Ted Chiang erschienen - auch sie ein absoluter Lesetipp.
Und Deutschsprachiges?
Herbert W. Franke ist noch immer interessant; sehr im Trend liegt derzeit Dietmar Dath, der für mich vor allem ein hervorragender Essayist ist, seine Romane haben zum Teil einen recht unergründlichen sprachlichen Erfindungsreichtum. Der letzte große Roman von Wolfgang Jeschke, "Das Cusanus-Spiel", ist sehr gelungen. Marianne Gruber ist ebenfalls empfehlenswert. Es gibt also nach wie vor ein mehr als ausreichendes Angebot an Texten.
Information#
Franz Rottensteiner wurde 1942 in Niederösterreich geboren und ist bis heute einer der wichtigsten deutschsprachigen Literaturkritiker im Bereich der Science-Fiction. Er war bis 1995 der literarische Agent des polnischen Autors Stanis³aw Lem. Die von ihm seit 1963 herausgegebene Zeitschrift "Quarber Merkur" gilt als ein führendes theoretisches Medium für die Auseinandersetzung mit phantastischer Literatur. Der promovierte Publizist hat zunächst als Bibliothekar gearbeitet, später wurde er hauptberuflich Literaturkritiker und Herausgeber, so etwa der legendären "Phantastischen Bibliothek" bei Suhrkamp. Weiters gab er die Reihe "Science Fiction der Welt" im Insel-Verlag heraus, die Reihe "Die phantastischen Romane" im Paul-Zsolnay-Verlag und ebendort die achtzehnbändige H.-G.-Wells-Ausgabe.