Tiefenpsychologie USA vs. USSR#
Aus: Wilfried Daim: Die Kastenlose Gesellschaft (1960) (Web-Book)
DIE UDSSR (gekürzt)
Man könnte meinen, dass man die Psychologie der Sowjets und ihrer Führungsschicht allein oder doch vor allem aus ihrer
kommunistischen Doktrin verstehen könnte. Aber die Situation ist psychologisch viel komplizierter und komplexer, man kann die Reaktionen der Sowjetführer nicht einfach aus ihrer Identifikation
mit der kommunistischen Ideologie erklären. Natürlich ist das
Verständnis für die kommunistische Psyche trotzdem
maßgebend für das Verständnis der Sowjets, doch kommen
speziell russische Komponenten hinzu.
Wir haben anhand der Stilentwicklung in der Sowjetunion gezeigt
— Auto und Baustil —, dass in Sowjetrussland ein
sekundärkapitalistischer Zug zu bemerken ist. Als gleichsam
konzentrierter Kapitalismus sind die USA der bestgehasste und
zugleich höchstbewunderte Konkurrent. Kurz nach der
Revolution gab es einen höchst modernen Stil, wie er sich 1960
im Westen noch keineswegs überall durchsetzt. Auf die
leninistische Epoche folgte die stalinistische, die einen
Durchbruch des Sekundärkapitalismus in der Imitation westlicher
Wolkenkratzer brachte.
Die Sowjets identifizieren sich mit dem schmutzigen Kind —
Proletarier gegen den zugleich bewunderten und gehassten
Vater — Kapitalisten — USA. Die Sehnsucht, es den USA
gleichzutun, ja sie zu übertrumpfen, demonstriert den großen
Wunsch der Sowjetführer, Kapitalisten zu sein. Der übergroße
Stolz auf geschaffene ökonomische Werte zeigt das
Unvermögen, aus den bourgeoisen Kategorien
herauszukommen. Der »dreckige Prolet« strebt nach
gesellschaftlicher Anerkennung, ohne dass er sich dessen
bewusst zu sein braucht.
Bei den Sowjets bestehen jedoch nicht nur sekundär-
kapitalistische, sondern auch noch sekundärfeudale,
sekundärzaristische Momente. Der Vergleich zwischen der
Basilius-Kathedrale im Kreml und der Moskauer Universität zeigt,
dass auch hier ein Identifikationsproblem vorliegt, — allerdings
auch eines mit Amerika. Hier ist es zu einer Identifikation mit,
dem kirchlichen Stil des vorrevolutionären Russland gekommen.
Wenn man von dem engen Konnex zwischen Kirche und Staat
weiß, der in Russland herrschte und der die Kirche weitgehend
vom Staat abhängig machte, dann muss man diesen Stil wohl
auch sekundär nennen, gerade das Sakralmoment des Zaren ist
hier bedeutend akzentuiert.
Aber auch anderweitig zeigte sich im Sowjetstaat die
Identifikation gerade der Führungsschicht mit der
vorrevolutionären Feudalschicht. Man erkennt dies besonders an
jener Kunst der Stalinepoche, in der gerade der leere Prunk der
Vorweltkriegszeit imitiert wurde, ebenso wie in der Nachahmung
des Vergnügungsstils der russischen Oberschicht der
vorrevolutionären Epoche. Auf der Krim baute man z. B. ein
imitiertes Nizza auf, aber nicht etwa ein modernes Nizza,
sondern das einer ganz bestimmten Zeit. Nach der Umstellung
vom Gaslicht auf elektrisches Licht wurde zunächst auch in
Nizza elektrisches Licht in die Gaskandelaber eingeleitet. Genau
diese Kandelaber machte man auch Russland nach. Als Raab
vor den österreichischen Staatsvertragsverhandlungen in
Moskau weilte, lud Bulganin ihn und Figl zu einem
Sommeraufenthalt auf die Krim ein, denn dort wäre es »genau
so schön wie in Nizza«
Diese Bemerkung setzt voraus, dass sich die Herren für Nizza interessieren. Wer aber will schon nach Nizza? Wahrscheinlich weder Raab noch Figl. Erklärlich wird die Bemerkung Bulganins dagegen, wenn man bedenkt, dass Nizza das Vergnügungs- mekka der vorrevolutionären russischen Oberkaste war und gerade deshalb offenbar der Sowjetprominenz als der Inbegriff stilvollen Amüsements erscheint. Man erkennt daran, dass vorrevolutionären Lebenshaltungen, Leibeigenschaft, Vergnügen, Ochrana (die zaristische Geheimpolizei führte das Auge Gottes als Erkennungsmarke) durch den Kommunismus keineswegs überwunden wurden. Vielmehr klinkte nun gerade die neue Herrenschicht in eben diesen Herrschaftsstil wieder ein. Gerade dieser Sekundärfeudalismus und Sekundärkapitalismus kam in der stalinistischen Ära in besonderer Weise zum Ausdruck.
Ein Seitenblick auf den Kommunismus zeigt, dass es diesem nirgends gelungen ist, die Herrschaftsschranke in ihrem tieferen Sinn zu überwinden. Im Gegenteil wurde, — allerdings, das ist auch zu beachten — in getarnter Weise, Sklaverei und Leibeigenschaft (Arbeitslager!) wieder eingeführt. Russland hat zum ersten Mal im Rahmen des ersten Fünfjahresplans mit der Schaffung riesiger Armeen von Zwangsarbeitern begonnen. Unter allen weiteren Fünfjahresplänen hat sich die Sklavenarbeit zu einem integrierenden Bestandteil der russischen Volkswirtschaft entwickelt. ...
Es gelang den Sowjets auf einem bestimmten Gebiet, den Westen nicht nur einzuholen, sondern sogar zu überholen. Dies ist in einigen Zweigen der Medizin und Technik der Fall, wurde jedoch am eindrucksvollsten in der Raketentechnik demonstriert. Ehe wir uns jedoch diesem Thema in besonderer Weise zuwen- den, wollen wir nochmals auf die offenbar kastenreduzierenden Tendenzen Chruschtschows hinweisen. Zunächst ist sein unmittelbarer, pyknischer, explosiv-humoriger Stil eindeutig kastenfremd, das sichert ihm entsprechende Popularität. Weiterhin zielt auch seine schon in anderem Zusammenhang erwähnte Schulreform auf den Abbau von Kastenschranken in der Sowjetunion ab.
In der Revolutionsabfolge Uranos (Zarismus — Kapitalismus) —
Chronos (erste Phase Lenin — die Revolutionsphase — zweite
Phase Stalin — die Sekundärzaristische) — Zeus, scheint
Chruschtschow wirklich der »Zeus« zu sein, er herrscht ohne
Mord und leitet damit eine neue Ära der Sowjetunion ein.
Man wendet dagegen ein, dass Chruschtschow den
Totalitätsanspruch, das heißt, den allgemeinen
Weltkommunismus als endgültiges Ziel, nicht aufgegeben hat.
Aber dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Denn auch jede
Weltreligion — Christentum, Buddhismus, Islam — stellt einen
Totalitätsanspruch, den der Islam und zum guten Teil auch das
Christentum mit Feuer und Schwert durchzusetzen trachteten.
Dieser Totalitätsanspruch der Sowjets ist nicht geschwunden,
man hat sich jedoch von der gewaltsamen Ausbreitung zu einer
friedlichen, bekehrenden durchgerungen; dadurch fiel die
sadistisch-aggressive Seite der Sache weg. Wenn also die
Kommunisten sich nur noch auf friedliche Expansion einstellen
sollten, außerdem — sie können gar nicht mehr anders —
Häretiker weiterleben lassen, dann werden sie auch ihre
sadistisch aggressive Spitze verlieren. Die Notwendigkeit,
Spielarten des Kommunismus anzuerkennen — also die
Häretiker —, führt notwendig zu einer Lockerung der Aggression
nach außen. Sicher muss man noch mit sublimierten
Aggressionen rechnen — wirtschaftlich, ideologisch, psycho-
logisch —, doch kann die Wandlung vielleicht zu einer Vorstufe
einer Entspannung überhaupt führen.
Wie man von außen hier politisch-psychologisch nachhelfen
kann, wollen wir in diesem Rahmen nicht erörtern. Allerdings
haben wir dabei trotzdem keine absolute Gewissheit, dass kein
Krieg erfolgt. Das bedeutet: Das Schicksal des Planeten steht
echt in Frage. Dazu habe ich in meiner Arbeit ”Totaler Unter-
gang?« das Entsprechende gesagt.
Die Erreichung eines, den Sowjets bisher versagt gebliebenen,
echt fundierten Selbstbewusstseins ist von großer Bedeutung.
Denn nur das Bewusstsein echter Leistung, echter Potenz macht
tolerant. Die Angst vor der Überzeugungsstärke der anderen
macht aggressiv. Damit kommen wir wieder auf den
Raketenwettlauf zwischen Ost und West zurück.
DER RAKETENWETTLAUF IM OST-WESTKONFLIKT
Da der Raketenwettlauf eine der wichtigsten propagandistischen
Auseinandersetzungen darstellt und neben dem
Wirtschaftskampf um die unterentwickelten Gebiete als der
Konzentrationspunkt des Kampfes zwischen Ost und West
anzusehen ist, ist die Problematik wichtig genug, um ihr einen
entsprechenden Platz einzuräumen.
Das Urteil sachlicher Vernunft lässt keinen Zweifel daran, dass
alle denkbaren Weltraumprojekte zusammengenommen den
praktischen und ideellen Nutzen nicht bringen können, der die
unerhörten Anstrengungen bei ihrer Realisierung rechtfertigen
würde, gleichgültig ob sie von den USA oder der UdSSR
unternommen werden. Die militärischen Erwägungen aller Art,
die immer wieder zu hören sind, haben zwar gute Gründe, doch
sind die aktivierten Affekte auf beiden Seiten weit
überdeterminiert. Die propagandistische Wirkung der
sensationellen Leistungen auf technisch minderentwickelte
Länder steht in keinem Verhältnis zu den Erfolgen, die man bei
ihnen durch direkte Investition der Geldmittel erreichen könnte,
und die Forschungsergebnisse sind, verglichen mit dem
Aufwand, von unverhältnismäßig geringem Wert.
Die Gründe für die hektische Entwicklung der Raum-Raketen
gewinnen durch den Umstand, dass sie meistens von Politikern
vorgebracht werden, nicht an Überzeugungskraft, sie erwecken
im Gegenteil umso eher den Eindruck von Rationalisierungen,
die von den rationalen Motiven weit entfernt sind. Dass gerade
Laien die Raketenerfolge als faszinierend und imposant
empfinden, stützt zwar die These ihrer propagandistischen
Wirkung, betont aber auch wieder das unterschwellige
Engagement jenseits der rein technisch-rationalen Beurteilung.
Um in die tiefere Motivation des Raketenwettlaufs einzudringen,
müssen wir uns daher die affektiven Investments in Erinnerung
bringen, welche die Bevölkerung der UdSSR und der USA,
besonders aber die Politiker beider Staaten vollziehen, und vor
allem die affektive Ausgangslage der Sowjets den Amerikanern
gegenüber betrachten, denn die Sowjets waren es, die den
Wettlauf eröffneten.
Aus dem bisher Entwickelten ist leicht zu verstehen, dass die
Sowjets den Amerikanern gegenüber ganz allgemein in einem
ausgesprochenen Konkurrenzkampf stehen. Er zielt darauf ab –
und diese Bestrebungen werden mit viel Zuversicht an die große
Glocke gehängt -– die USA auf den verschiedensten Gebieten
einzuholen oder zu übertreffen: in der Fleischproduktion, in der
Aluminiumerzeugung und in der Herstellung von Kunststoffen.
Während jedoch die Überholung in der Fleischproduktion noch
einige Zeit auf sich warten lassen wird, haben steh die Sowjets
mit einem anfänglich geheim gehaltenen gewaltigen Anlauf an
die Spitze der Raketenproduktion gesetzt, die Rakete wurde
Zum Idol, zum Grundprinzip des Überholdrangs, und die
Sowjetmenschen mussten viel dafür opfern. Die Rakete soll
expressis verbis, die »Überlegenheit“ des sozialistischen
Systems beweisen.
Obwohl die Konkurrenzhaltung, wie sie sich im Raketenwettlauf
äußert, in der menschlichen Gesellschaft weit verbreitet ist, kann
man sie doch nicht als normal bezeichnen. Im Gegenteil, es ist
durchaus abwegig, wenn man einen Kühlschrank nicht nach
Notwendigkeit und Neigung anschafft, sondern weil ihn der
Nachbar auch hat oder weil dieser sich ihn nicht leisten kann.
Man bringe sich die Infantilität des Einholdrangs dadurch ins
Bewusstsein, dass man sich vorstellt, wie die Bevölkerung in
einem Wahlkampf in Österreich reagieren würde, wenn eine
Partei etwa mit der Parole antreten würde, die CSR oder die
Schweiz in der Schuh-, Butter- oder Strumpfproduktion
einzuholen. Die Bevölkerung würde nur lachen. Wir finden den
verkrampften Einholdrang besonders häufig beim zweiten Kind
der Familie, dessen stereotype Wendung »ich auch« genügend
bekannt ist, und wir finden, wie wir wiederholt zeigten, den
Konkurrenzkampf in der ödipalen Konstellation, im Streben des
Sohnes, den Vater zu übertrumpfen.
Bevor wir hierauf näher eingehen, müssen wir uns daran
erinnern, dass die Konkurrenzsucht des Kleinen gegenüber dem
Großen (Bruder oder Vater) immer auch eine heimliche
Bewunderung einschließt. Wir finden dies in der Bewunderung
bestätigt, die von den führenden Schichten in Russland den USA
gezollt wird und die alle Amerika-Imitation anderswo in den
Schatten stellt. Wir haben dies anhand der Autotypen und des
Baustils gezeigt. Die Sowjets sind gegenüber den USA in der
Sohn-Vater-Relation fixiert. Ihr Kampf gilt einem Bild vom
amerikanischen »Kapitalismus«, das längst keine Realität mehr
hat, nämlich dem Monopolkapitalismus, der vielleicht vor 50
Jahren existierte, — ebenso wie der Neurotiker an ein Bild des
Vaters gebunden ist, das ziemlich alt und durch die psychische
Entwicklung des Vaters oft längst überholt ist.
Der Gegensatz zwischen «Kapitalist« und »Proletarier«, analog
dem von »Juden« und »Ariern« im Nationalsozialismus,
beherrscht die sowjetische Affektivität. Dabei nimmt, wie wir
ebenfalls schon genügend zeigten, der Kapitalist, also der
Industrielle, gegenüber dem »Proletarier«, also dem Arbeiter,
eine Vaterstellung ein, und zwar insofern, als er eine Reihe von
Überlegenheiten aufweist, die durchaus auch der Vater
gegenüber dem Kind hat: er ist Befehlender, »Reiner«,
Überlegener, Besitzender, Freiverfügender, während der Arbeiter
ein Gehorchender ist, einer, der wenig besitzt, ein Unterlegener,
ein Schmutziger. Der Industrielle ist der »Große«, der Arbeiter
der »Kleine«.
Wir bringen nochmals in Erinnerung, dass die Eigentümlichkeiten
des Wirtschaftssystems der USA einerseits und der UdSSR
andererseits nun weiter dazu führen, dass die gesamten USA,
und somit auch jeder einzelne US-Amerikaner, einen
»kapitalistischen«, jeder Sowjetbürger einen »proletarischen«
»Anstrich« erhält, obwohl es komisch wirkt, dass ein
amerikanischer Laufbursche »kapitalistisch«, ein Sowjetmillionär
dagegen »proletarisch« sein soll. Mit dem Versuch des
»sozialistischen Systems«, das »kapitalistische« zu
übertrumpfen, stellt sich nun zwischen dem Sowjetstaat und den
USA eine Relation her, die ein Investment individueller Vater-
Sohn-Komplexe möglich macht. Dass ausgerechnet die Sowjets
in den bürgerlich kapitalistischen Konkurrenzkampf eintreten, der
eigentlich der sogenannten »freien« Wirtschaft zusteht, ist
besonders merkwürdig.
Wir wissen im Einzelnen nicht, wessen individuelle
Vaterkomplexe bei den Sowjets zunächst in den Raketenwettlauf
investiert wurden, ob es die Chruschtschows oder die anderer
Sowjetpolitiker waren. Jedenfalls wurden fast alle
Verantwortlichen angesteckt; das ist nur möglich, wenn bei allen
verwandte Investmentmöglichkciten vorhanden sind. Im
Sowjetsystem wird der Versuch unternommen, alle infantilen
Autoritätsaggressionen gegen die Kapitalisten zu mobilisieren.
Man darf dabei nicht übersehen, dass die Krankhaftigkeit der
Situation nicht nur auf einer Seite zu suchen ist. Die US-
Amerikaner haben schon beim ersten sowjetischen Anlauf ohne
Zögern mitgespielt und pflegen seitdem den Raketenwettlauf mit
einer mitleiderregenden Erbitterung. Wenn es zum
»Sohnkomplex der Väter« gehört, dass die Väter die Söhne
»klein« und »unten« halten wollen, so demonstrieren die US-
Amerikaner diesen Sohnkomplex gegenüber den Sowjets
geradezu meisterhaft. Wir wollen diesmal noch weiter ins Detail
gehen: Das vorläufige Zielobjekt des Konkurrenzkampfes ist
eindeutig der Mond. Es fragt sich, welche Symbolbedeutung der
Mond besitzt.
Auch hier wollen wir keineswegs leugnen, dass das Anzielen des
Mondes als erstes Objekt auch sachlich astronomische Gründe
hat. Doch aktiviert das Erscheinungsbild und die gesamte
Tradition, wenn es um den Mond geht, wesentliche Affekte,
deren Anreiz unterschwellig bleibt. {Dasselbe gilt und gälte von
Sonne, Venus, Mars u. a., viel weniger jedoch von einem
unsichtbaren Stern, der nur eine hohe Nummer hat.)
In den weitaus meisten Mythen und dichterischen Erzeugnissen
hat der Mond weiblichen Charakter, das liegt auch aus
verschiedenen Gründen nahe. So gibt es die bekannte9
Parallelität zwischen den Mondphasen und der weiblichen
Periode, also den 28-Tagerhythmus, es gibt die innige
Beziehung zwischen dem Mond und dem Meer, dessen
Gezeiten er bestimmt, wobei Meer und Wasser aus anderen
Gründen wieder tief weiblichen Charakter besitzen. Der Phasen-
wechsel entspricht wieder femininen Gemütsschwankungen, und
schließlich ist der Mond Herr der Nacht, des umhüllenden
Dunkels und als solcher ein vielbesungener Gegenstand der
lyrischen Dichtung. Auch im Christentum wurde der Mond zum
weiblichen Symbol. Schon im Alten Testament deuten die Brüder
Josefs den Mond als Symbol ihrer Mutter: Josef träumt, dass
sich Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm verneigen. Dieser
Traum empört seine Brüder, weil sie ihn dahin verstehen, dass
Josef erwarte, sein Vater (Sonne), seine Mutter (Mond) und
seine elf Brüder (die Sterne) sollten ihm Verehrung erweisen
(Gen 37, 5—12). Ebenso wird Maria mit dem Mond und der
Venus in Zusammenhang gebracht (Litanei: »Du Morgenstern«).
Solange noch kein Mensch seinen Fuß auf die Oberfläche des
Mondes gesetzt hat, ist er in diesem Sinn außerdem noch
»jungfräulicher« Boden. Allerdings bedeutet das Auftreffen der
sowjetischen Rakete am 13. IX. 1959 bereits eine Änderung
dieses Zustands.
Nicht umsonst verkündeten schon anlässlich der sowjetischen
Rakete vom 2. Januar 1959, welche den Mond gar nicht traf,
lärmende Lautsprecherwagen in den Straßen Pekings und in den
Gärten des Kaiserpalastes, dass die Rakete bald ihr
Rendezvous mit der Mondjungfrau haben werde. Denn nach
einem alten chinesischen Märchen lebt auf dem Mond ein
wunderschönes Mädchen.
Eine interessante Karikatur, »Die Mondsüchtigen«, setzt den
Drang zum Mond, welcher die Sowjets und die US-Amerikaner
beseelt, mit dem Nachtwandeln in Beziehung.
Nun könnte man meinen, diese Karikatur sei völlig belanglos,
besonders, da sie österreichischen Ursprungs ist. In Wahrheit
pflegt der Witz, wie Freud überzeugend zeigte, häufig
uneingestandene Triebtendenzen schlaglichtartig zu beleuchten.
Wenn nun hier ein quasi unkontrollierbarer und unbewusster
Drang zum Mond gezeigt wird, ein, intellektuell gesehen,
»blinder« Drang, dann ist dies beileibe nicht unsinnig.
Die Sehnsucht zum Mond hin ist, wenn man sie als
überdeterminiert betrachtet, in ihrem unbewussten Anteil sehr
wohl zu erklären. Es ist also durchaus nicht sinnlos, die
Anregung der vorliegenden Witzzeichnung aufzunehmen und
sich mit dem volkstümlich als »Mondsucht« bezeichneten
Nachtwandeln zu befassen. Der Kern der in dem Ausdruck
»Mondsucht« enthaltenen Wahrheit liegt in der unbewussten
Identifikation von Mutter und Mond. Was wissen wir nun
tiefenpsychologisch über die »Mondsucht«? Über den
Nachtwandel finden wir zwei tiefenpsychologische Arbeiten vor,
eine von Sadger: »Uber Schlafwandel und Mondsucht« und eine
von G. H. Graber über »Psychoanalyse und Heilung eines
nachtwandelnden Knaben«. Beide Autoren kommen zum
grundsätzlich gleichen Ergebnis:
Das unbewusste Motiv des Nachtwandelns ist der Wunsch, zur
Mutter zu gelangen. Die motorischen Antriebe, welche sich
gewöhnlich in Träumen erschöpfen, setzen sich dabei in zielvolle
Bewegung um. Wenn auch für den mit der tiefenpsychologischen
Problematik vertrauten Leser die folgenden Ausführungen als
nicht unmittelbar zum Thema gehörig empfunden werden, so
wird man doch bemerken, dass diese für die vorliegende
Thematik nicht ohne Belang sind.
Bei dem von Graber (1931!) höchst aufschlussreich
geschilderten Fall umfasst die Bindung an die Mutter die
gesamte Persönlichkeit. Die Träume des Kranken sind zumeist
Fliegeträume, die ihn an das nächtliche Wandeln ans Bett der
Mutter erinnern. In einem dieser Träume fällt er in einen großen
Ballon, schlüpft in ein Loch hinein, zugleich mit einer Frau, doch
werden sie beide von einem großen Mann gepackt. Zu Ballon
assoziiert der Knabe Mutter; der Mann ist wohl der Vater. Bei
Grabers Darstellung des Falls wird die ödipale Konstellation
eindeutig herausgeschält. Das Ziel der Flieg- und
Nachtwandelmotorik ist die inzestuös angestrebte Mutter; dabei
besteht auch eine typische Kastrationsangst zugleich mit einem
gegen den Vater gerichteten Kastrationswunsch.
Eine deutliche Beziehung zum Mond, verbunden mit einer zur Mutter, haben bei dem Knaben Träume, in denen ein »rundes Gespenst, das so kugelig ist«, vorkommt. Der Knabe ängstigt sich vor »dicken Frauen«, und er erzählt, vor einiger Zeit sei auf der Wickelkommode etwas »Rundes und Weißes« gelegen, das er für ein Ungeheuer gehalten habe. Immer wieder kommen bei ihm die »dicken Gespenster« oder »dicken Hexen« vor, zu denen er auch die schwangere Mutter assoziiert. Seine ödipale Konstellation zeigt sich schließlich noch bei der Analyse eines Traumes, in welchem eine Flugmaschine herunterfällt. Er sagt dazu: »Das Flugzeug ist der Papa, und der Traum bedeutet ein großes Unglück, Papa stürzt in die Mama.« Einmal verglich der Knabe das »Wachsen des Mondes« mit dem Wachsen des Leibes der Mutter, bevor sie den Bruder des Knaben gebar. Diese Skizzierung des Falles genügt, um erkennen zu lassen, dass die Problematik in folgendem. Dreieck gelagert ist.
Was nun die Symbolhaftigkeit der Raketen betrifft, so finden sich
entsprechende Analysen bereits in älteren Arbeiten, zum
Beispiel 1930 bei G. H. Graber, der ein geträumtes
Weltraumschiff in einem Vortrag vor Psychoanalytikern nicht
einmal expressis verbis als Symbol des männlichen Genitals
ausdeutet, weil er die Beziehung innerhalb des von ihm
behandelten Falls für ganz offensichtlich hielt. Im
Zusammenhang mit dem Mond als Flugziel wird die sexuell
männliche Betonung noch deutlicher, und die US-Raketen tragen
ihre supermännlichen mythologischen Namen, wie Jupiter, Thor,
Atlas, Titan mit größter Berechtigung.
In diesem Stadium der Entwicklung steht die Bemühung durch
die Kraft der Raketen zu imponieren, im Vordergrund Die
Sowjets erwiesen sich als Meister, was Größe und Gewicht
betrifft und zeigten damit ihre urwüchsig gewaltige Potenz, aber
auch eine bemerkenswerte Parallele zu den Feststellungen des
Kinsey Reports. Dort wird das Sexualverhalten unterkastiger
Männer durch starke Kraft und Urwüchsigkeit, bei geringer
Differenzierung des Reizspiels, das Sexualverhalten
oberkastiger Männer jedoch durch verfeinertes Reizspiel und
subtilere Raffinesse der Werbung charakterisiert. In ihrem
Raketen-Programm legten die Sowjets besonderen Wert auf
einen robusten Antrieb, die US-Amerikaner auf einen raffinierten
Steuermechanismus: der Raketenbau der Sowjets bzw. der US-
Amerikaner zeigt Tendenzen des unter- bzw. oberkastigen
Sexualverhaltens.
Inzwischen scheinen die Sowjets die US-Amerikaner jedoch
auch noch in der Vollkommenheit des Steuermechanismus
überholt zu haben, doch wird von Seiten der USA mit ganz
großen Mitteln der Versuch gemacht, auf beiden Gebieten den
sowjetischen Vorsprung wieder aufzuholen. Zurzeit haben die
Sowjets jedoch eine Überlegenheit in beiden Bezügen.
Als zusammenfassende Darstellung unserer Analyse kann die
sowjetische Karikatur zu ihrer eigenen Rakete betrachtet
werden.
Die folgende Karikatur aus:
»Sowjetunion heute«, Wien 5. Jgg. Heft 4 (176) 25.1.1959
Als nächstes Kampfobjekt steht bekanntlich die Venus auf dem
Programm.
Die Milliardenprojekte der USA und der UdSSR zur Eroberung des Weltraums erweisen ihre Unterlagerung durch infantil fundierte Triebreaktionen mit entsprechenden Ratio- nalisierungen, und die Erkenntnis dieser Tatsache sollte für Ost und West gleich heilsam sein.