Eröffnung einer Großbaustelle #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 18. Dezember 2014)
Von
Evelyne Polt-Heinzl
Großflächige Umgestaltungen ganzer Stadtteile, wie man sie in Wien gerade wieder erlebt, generieren eine Goldgräberstimmung. Wenn ökonomische Prozesse außer Kontrolle geraten und die politischen Instanzen schwach sind, setzt das leicht kriminelle Energien frei. Das kann man aus aktuellen Zeitungsberichten lernen oder aus der Geschichte.
In Richard Beer-Hofmanns Roman „Der Tod Georgs“ (1900) stellt sich bei einem Abendspaziergang in Ischl die Vision eines antiken Tempels ein, errichtet von Generationen von Arbeitern und diese Generationen miteinander verbindend: ein Gegenbild zur Rasanz der Bebauung der Ringstraße, die 1865, ein Jahr vor Beer- Hofmanns Geburt, eröffnet wurde und eben nicht mehr Generationen verband, sondern Kapitalien und Spekulanten.
Das kaiserliche Dekret von 1857, die alten Befestigungsanlagen zu schleifen, setzte eine grundlegende städtebauliche Erneuerung Wiens in Gang. Nach einer Idee des in Bayreuth geborenen Architekten Ludwig Förster entstand eine boulevardartige Prachtstraße rund um die innere Stadt mit der Hofburg, dem Sitz des Kaisers. In den folgenden Jahrzehnten wurde sie mit repräsentativen Staatsbauten und herrschaftlichen Palais bebaut, private Bauherrn wurden dabei mit Steuernachlässen gefördert. Ökonomisch bedeutete das Projekt eine enorme Aufbruchsstimmung, in der märchenhafte Aufstiege und Karrieren möglich wurden.
KONZENTRATION AUF WIEN #
Als Epochenbegriff impliziert die Ringstraßenzeit einige Weichenstellungen, die mit dieser Stadttransformation verbunden sind. Dazu gehört die Konzentration des Aufschwungs auf Wien, also die Vernachlässigung einer gleichmäßigen Entwicklung des gesamten Habsburgerreiches, was die nationalen Spannungen anheizte. Dazu gehört auch die Festschreibung der Wahrnehmung auf die Repräsentationspraktiken der Oberschicht. Während in den Bezirken außerhalb des Gürtels ein Wildwuchs fassadengeschönter Zinskasernen entstand, setzte das Bürgertum im architektonischen Prestigeduell mit dem Adel die monarchistische Repräsentationspolitik mit bürgerlich-kapitalistischen Mitteln fort. Als erster offizieller Ringstraßenbau wurde 1879 die Votivkirche eingeweiht, er richtet zum Dank für die Errettung des Kaisers bei einem Attentat.
Für viele Akteure der Wiener Moderne bildete der radikale Stadtumbau den festen Baugrund ihrer Karrieren. Die Väter erwirtschafteten mit den Geschäften und Spekulationsgewinnen jene Vermögen, die den Söhnen ein Leben für die Kunst ermöglichten. Die Familienwege führten nicht selten von wenig angesehenen Bezirken in Ringstraßennähe. Auch Schnitzlers Eltern über siedelten 1871 in ein Palais am Burgring. In seinem Werk kommt die radikale Neugestaltung der Stadt allenfalls in kleinen Episoden vor. Wenn „Frau Berta Garlan“ (1900) aus der Provinz in die Metropole reist, sieht sie bei der Großbaustelle von Otto Wagners Stadtbahn „Mauern, die aus dem Wienbett aufstiegen, halbfertige Geleise, kleine Waggons in Bewegung und beschäftigte Arbeiter.“ Die multiplen Sinneseindrücke überfordern Berta ebenso wie kurze Zeit später die Affärenroutine ihres Liebhabers.
Die Gründerjahre 1867 bis 1873 brachten der Baubranche enorme Gewinne und Grundstücksspekulationen von bisher ungekanntem Ausmaß. Angeheizt wurde die Entwicklung durch die Vorbereitung der Weltausstellung in Wien, die am 1. Mai 1873 eröffnet wurde. Eine Woche später brachen die Finanzmärkte ein. Am schwarzen Freitag vom 9. Mai 1873 verloren auch die Väter von Sigmund Freud und Arthur Schnitzler Teile ihres Vermögens und die Industriellenfamilie Hofmannsthal erlitt beträchtliche Verluste. „Haben Sie etwas vom Jahre 73 gehört? Wissen Sie, aus welchem Grundstückschwindel ohnegleichen die majestätische Wiener Ringstraße hervorwuchs?“, schrieb Anton Kuh unter dem Titel „Der Strauß-Walzer als Gesinnung“. Johann Strauß Sohn, der mit der „Demolierpolka 1870“ schon die radikale Neugestaltung Wiens ,vertont‘ hatte, komponierte auch die Begleitmusik zum Börsenkrach, von dem er dank seiner umsichtigen ersten Frau, der Sängerin Jetty Treffz, selbst nicht betroffen war: „Die Fledermaus“ – „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist” – wurde am 5. April 1874 im Theater an der Wien uraufgeführt.
LITERARISCHE ZEUGNISSE #
Die Literatur um 1900 hat den Crash wie die Mutation Wiens zur modernen Metropole kaum bearbeitet. Man könnte, ihre Werke lesend, leicht vergessen, dass in der Jugendzeit dieser Autoren ganz Wien eine Großbaustelle in Permanenz war. Ganze Stadtteile wurden zu unbegehbaren Bauhalden. Hat der Stadtflaneur Peter Altenberg die Krater und Gerüste nicht bemerkt? Auch Schnitzlers Lebemänner sehen am Weg zu den süßen Mädeln, die Ringstraße überquerend, weder die Baugruben noch die kümmerlichen Alleebäume. Es ist Betty Paoli, die 1869 in einem Essay mit dem Titel „Unsere Stadt“ die „armen Krüppel auf der Ringstraße“ beschreibt und kritisch vermerkt, dass sich „der Strom großstädtischen Lebens“ nicht gleichmäßig auf die Stadt verteilt und Wien, was den „Comfort der Existenz“ betrifft, noch keineswegs auf einer Stufe „mit den eigentlichen Großstädten Europas“ stehe.
Zehn Jahre später besucht Rosa Mayreder, die im Epochenbild der Wiener Moderne selten vorkommt, den Rathausbau. „Wir gingen von unterst zu oberst, wanden uns zwischen dem Wirrsal von Gerüsten empor bis auf das schon vollendete Dach. [...] Die fröhliche Kraft, die sich in dem emporwachsenden Riesenbau ausdrückt, verfehlte ihre Wirkung nicht“. Hans Müller- Einigen beschreibt in seiner Autobiografie die „gewaltigen Baugerüste am „Schottentor“, und er hört dabei die multiethnische Zusammensetzung der „Arbeiter in allen Sprachen der Monarchie“. Ihre elenden Lebensbedingungen beschreibt 1901 Max Winter in seiner ersten Sozialreportage in der Arbeiter-Zeitung.
Prinzipiell ist man mehr auf die ältere Generation verwiesen, will man literarische Zeugnisse der entstehenden Ringstraße finden. Zu einem Teil sind das Verarbeitungen von Verlusterlebnissen. Eduard Pötzl etwa sah den Herrn von Demolierer in Wien in personam herumgehen und nach Opfern ausspähen, und dann stehen sie da, „die neuen Gebilde aus dem Anker-Steinbaukasten und schreien aus hundert Mäulern zum Himmel.“
In den Erzählwelten von Marie von Ebner- Eschenbach – vor allem im Wienroman „Lotti, die Uhrmacherin“ (1880) –, finden sich viele Verarbeitungen des veränderten Stadtbildes, in die sie die Zeichen des gesellschaftlichen Strukturwandels hineinliest. Auch Ferdinand von Saar beschäftigten die städtebaulichen Umbrüche keineswegs nur mit sentimentalem Vorzeichen wie in den „Wiener Elegien“ (1893). In seinen Erzählungen zeigen „zahlreiche Baugerüste die werdende Ringstraße“ und in den Vororten verschatten die emporwachsenden Wohnkasernen zunehmend die Hausgärten, die „der allgemeinen Bauwut“ noch entgangen sind.
Eine unmittelbare Verarbeitung der überhitzten Spekulationsblase ist Saars Erzählung „Marianne“ (1873), die Geschichte eines Liebesverzichts. Der abschließende Tanz der beiden unglücklich Liebenden endet mit einem doppelten Zusammenbruch. Der rauschhafte, erotisch aufgeladene Tanz thematisiert den Taumel vor dem Crash und weist voraus auf das Thema Tanz und Ekstase in den Inflationsromanen der 1920er-Jahre.