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One too much - Europa braucht einen und nicht zwei Präsidenten #

Die seit 2009 existierende EU-Doppelspitze führt regelmäßig zu unproduktiver Mehrfacharbeit, diplomatischen Spannungen und gelegentlich sogar politischen Konflikten.#


Von der Wiener Zeitung (10. Dezember 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Martin Selmayr


Die "Konferenz zur Zukunft Europas" soll die Weichen für die weitere Entwicklung der EU stellen und einen nachhaltigen Reformprozess einleiten. Die Herausforderungen sind groß: Nach dem Brexit muss die EU die Corona-Pandemie samt gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen bewältigen, sich der Klimaherausforderung stellen und ihre Stellung in der Welt behaupten. In Zeiten globaler Umbrüche und Angriffe auf das liberale Demokratiemodell muss sie zu ihren Werten und Grundsätzen stehen und die Demokratie auf europäischer Ebene weiterentwickeln, um ihre Bürger noch stärker und direkter in die Gestaltung der europäischen Integration miteinzubeziehen. In einer Sonderserie zur EU-Zukunftsdebatte veröffentlicht die "Wiener Zeitung" in unregelmäßiger Folge Beiträge namhafter Fachleute und Meinungsbildner. Die einzelnen Texte wurden dem Buch "30 Ideen für Europa" entnommen, das die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) im Herbst 2021 im Czernin-Verlag herausgegeben hat.

Als US-Präsident Donald Trump am 25. Mai 2017 zu seinem ersten Gipfeltreffen mit der EU-Spitze in Brüssel eintraf, kam es zu einem denkwürdigen Augenblick. Der - bereits damals von vielen mit großer Sorge beäugte - mit Abstand mächtigste Mann der Welt wurde auf europäischem Boden gleich von zwei Männern begrüßt: von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, und von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der EU-Kommission. Tusk und Juncker, die zuvor beide viele Jahre lang Regierungschefs gewesen waren, war bei dieser Begegnung offenbar eine gewisse Unklarheit in der Außenvertretung Europas bewusst: "Wissen Sie, Mr. President, wir haben zwei Präsidenten in der EU", begrüßte Tusk, um Aufklärung bemüht, den US-Präsidenten. Und Juncker ergänzte: "One too much."

Einen Präsidenten an der Spitze der EU-Kommission gibt es bereits seit 1951, als Jean Monnet erstmals bei der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl die Leitung der damals noch Hohe Behörde genannten Institution übernahm. Das Amt des ständigen und hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates wurde dagegen erst am 1. Dezember 2009 durch den Vertrag von Lissabon eingeführt.

Nach den Erfahrungen der ersten Jahre führt diese EU-Doppelspitze regelmäßig zu unproduktiver Mehrfacharbeit, diplomatischen Spannungen und gelegentlich sogar politischen Konflikten. Dies zeigte auch "Sofagate" beim EU-Türkei-Gipfeltreffen in Ankara am heurigen 6. April, als sich der Präsident des Europäischen Rates, ohne zu zögern, in den einzigen vorhandenen Stuhl neben dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan fallen ließ und damit der EU-Kommissionspräsidentin vor der sich fremdschämenden Weltöffentlichkeit nur noch den Platz auf dem Sofa überließ.

Für das Erscheinungsbild der EU nach außen hat die ineffektive Konkurrenz an der Spitze zunehmend nachteilige, ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellende Auswirkungen. Will die EU ihren Bürgern überzeugend politische Orientierung geben und in geopolitischen Konflikten wirkungsvoll auftreten, braucht es eine Reform an ihrer Spitze.

Parallel und rivalisierend#

Eine exekutive Doppelspitze ist auf nationaler Ebene an sich nichts Ungewöhnliches. In vielen Ländern der Welt gibt es einen Präsidenten und daneben einen Premierminister beziehungsweise Kanzler, wobei die nationale Verfassung jeweils deren Verhältnis klärt und klar regelt, wer der eigentliche Chef und damit Hauptansprechpartner für die Welt ist. Die EU hat nun aber seit 2009 zwei Präsidenten, die aufgrund zum Teil nicht ganz eindeutiger Formulierungen in den EU-Verträgen regelmäßig parallel und gelegentlich sogar rivalisierend international auftreten.

Während der auf fünf Jahre vom EU-Parlament auf Vorschlag des Europäischen Rates gewählte Kommissionspräsident "die allgemeinen Interessen der Union" fördert und "geeignete Initiativen zu diesem Zweck ergreift", nach Maßgabe der Verträge "Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen" ausübt sowie "außer in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die Vertretung der Union nach außen" wahrnimmt, nimmt der Präsident des Europäischen Rates, den dieser für jeweils zweieinhalb Jahre wählt, "auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft, unbeschadet der Befugnisse des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahr".

Die Leitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf ministerieller Ebene liegt wiederum in den Händen des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der vom Europäischen Rat mit Zustimmung des Präsidenten der EU-Kommission ernannt wird, den Vorsitz im Rat "Auswärtige Angelegenheiten" führt und zugleich einer der Vizepräsidenten der EU-Kommission ist. Ausgestattet mit diesem "kleinen Doppelhut", hat der Hohe Vertreter die schwierige Aufgabe, für "die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union" zu sorgen.

Um die ineffektive Konkurrenz an der EU-Spitze zu überwinden, könnten sich die EU-Mitgliedstaaten einvernehmlich darauf verständigen, die Verträge zu ändern und sich dabei entweder für eine vom Präsidenten der EU-Kommission oder eine vom Präsidenten des Europäischen Rates geführte EU-Exekutive entscheiden.

Personalunion an der Spitze#

In der ersten Variante würde die Führung der EU der Verfasstheit Deutschlands oder Österreichs ähneln, der EU-Kommissionspräsident würde zum "europäischen Bundeskanzler" und der Präsident des Europäischen Rates zum obersten Zeremonienmeister der Union, der wie ein Frank-Walter Steinmeier oder ein Alexander Van der Bellen gelegentlich mit wohlgewählten, manchmal auch mahnenden Worten zu gesellschaftlichem Zusammenhalt aufrufen würde.

In der zweiten Variante würde die Union vom Präsidenten des Europäischen Rates geführt und vertreten, der einem europäischen Emmanuel Macron vergleichbar die EU-Kommission zur Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates instruieren würde. Eine Direktwahl des Präsidenten des Europäischen Rates wäre diesem Modell angemessen und würde die EU damit zu einer Art europäischen Präsidialrepublik machen.

Eine weniger radikale und auch schneller herbeizuführende Lösung wäre es, dass die Mitgliedstaaten miteinander politisch vereinbarten, den nächsten Präsidenten der EU-Kommission zugleich für fünf Jahre zum Präsidenten des Europäischen Rates zu wählen und "Präsident der Europäischen Union" zu nennen. Dazu müsste man die Verträge nicht ändern. Denn der Vertrag von Lissabon sieht vor, dass der Präsident des Europäischen Rates "kein einzelstaatliches Amt" ausübt, lässt also die Möglichkeit bewusst offen, dass der Kommissionspräsident als Inhaber eines supranationalen Amtes zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt wird - der "große Doppelhut". Schon jetzt ist der Kommissionspräsident Mitglied des Europäischen Rates und damit in dessen Arbeiten intensiv eingebunden. Seine Unabhängigkeit würde dies also nicht in Frage stellen.

Verstärkte Zusammenarbeit#

Verstärkt würde dagegen die Zusammenarbeit zwischen Europäischem Rat und EU-Parlament. Beide Institutionen müssten bei der Auswahl des künftigen EU-Präsidenten gemeinsam nach Persönlichkeiten Ausschau halten, die sowohl den Respekt vor den Interessen der Mitgliedstaaten als auch vor der demokratischen Mehrheit im EU-Parlament mitbrächten. Und der EU-Präsident, der für die Tagesordnung, den Entwurf der Schlussfolgerungen und die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates verantwortlich wäre, müsste dem EU-Parlament vor und nach den Tagungen stets im Plenum Bericht erstatten.

Für die Bürger würden so exekutive Führung und parlamentarische Verantwortlichkeit in der Union sichtbarer und besser verständlich. Und der künstliche, oft innenpolitisch instrumentalisierte Gegensatz "hier die Union - dort die Mitgliedstaaten", der Wirkung und Image der Union regelmäßig schadet, würde in Gestalt des EU-Präsidenten endlich überwunden. Europa gelingt nur gemeinsam, das wäre gewissermaßen die große Überschrift dieser Reform, die als schönen Nebeneffekt auch nicht unerhebliche Einsparungen von rund 3 Millionen Euro pro Jahr mit sich brächte.

Die automatische Wahl des Kommissionspräsidenten zum Präsidenten des Europäischen Rates - die im Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden könnte - würde schließlich den Weg zu einem aufgewerteten Spitzenkandidatenmodell weisen, dessen Durchsetzung nicht als Sieg einer Institution über eine andere fehlinterpretiert, sondern als richtiger Mittelweg in einer EU empfunden würde, deren Führung sowohl der Zustimmung der 27 nationalen Demokratien als auch der im EU-Parlament verkörperten europäischen Demokratie bedarf. Für viele amtierende Regierungschefs, aber auch für herausragende EU-Parlamentarier wäre das neue, gestärkte Amt als EU-Präsident so attraktiv, dass sie dafür bereit sein könnten, sich der Herausforderung eines europaweiten Wahlkampfes zu stellen.

Das stärkste Argument für den gemeinsamen EU-Präsidenten ist aber die wirksamere und insgesamt besser verständliche Führung der EU nach innen und nach außen. Für die Staats- und Regierungschefs der Welt gäbe es mit dem EU-Präsidenten einen einzigen Ansprechpartner der EU. Die berühmte "Telefonnummer Europas", die Henry Kissinger so lange vergeblich suchte, wäre künftig die des Mobiltelefons des EU-Präsidenten. Das wäre eine gute Voraussetzung dafür, dass die EU im Interesse ihrer Bürger endlich geopolitisch vom Payer zum Player werden könnte.

Martin Selmayr war Kabinettchef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und von 2018 bis 2019 Generalsekretär der Europäischen Kommission. Der Beitrag stellt ausschließlich seine persönliche Meinung dar und entspricht nicht notwendig der offiziellen Auffassung der Europäischen Kommission.

Wiener Zeitung, 10. Dezember 2021

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