„Ich bin ein einziges, gehendes Wunder“ #
Gebürtige Wienerin, vertriebene Jüdin, gefeierte Anthropologin und Weltreisende in Sachen Erinnerung: Über das Leben der T. Scarlett Epstein.#
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: DIE FURCHE Donnerstag, 11. April 2013
Von
Doris Helmberger | Fotos: Gianmaria Gava
Über die Strudlhofstiege in Wien-Alsergrund fegt ein eiskalter Wind. Langsam und bedächtig kämpft sich T. Scarlett Epstein in ihrem dünnen Staubmantel bis zur ersten Rampe hoch, lehnt sich an das Geländer dieses architektonischen Juwels und lächelt tapfer in die Kamera. „Sie können gerne Fotos von mir machen“, sagt die 90-Jährige mit sonorer Stimme. „Aber ich will sie nicht mehr sehen müssen.“
Es werden wohl tausende Fotos sein, die Epstein noch nie zu Gesicht bekommen hat. Trotz ihres Alters reist die bedeutende Sozialanthropologin, die nach dem Tod ihres Mannes und kongenialen Forscherkollegen Arnold „Bill“ Epstein im Jahr 1999 allein in ihrem Haus im südenglischen Sussex wohnt, unermüdlich um die Welt: als Vortragende, als Beraterin der Weltbank und als eine der letzten Zeitzeuginnen in der Datenbank des London Jewish Cultural Centre. „Ich bin ein Call-Girl“, sagt die alte Dame später im warmen „Hotel Strudlhof“. „Wenn man mich ruft, dann komme ich.“ Beinahe jede Woche besucht sie auf Einladung des Gedenkdienstes Schulklassen, erzählt ihnen vom antisemitischen Furor der 1930er Jahre, von ihrer dramatischen Flucht und vom schwierigen Neustart in der Fremde.
Die Reise hierher nach Wien geht ihr besonders nahe. Vor etwa zehn Jahren hat sie dem damaligen Direktor des Erich-Fried- Gymnasium in der Glasergasse brieflich geschildert, wie sie und alle anderen jüdischen Schülerinnen und Schüler 1938 unter großem Gejohle von der Schule gejagt worden waren. Nun konnte sie in der Aula des Gymnasiums eine Gedenktafel mit den Namen aller 120 Vertriebenen enthüllen. „Einerseits war dieser Akt traumatisch, denn ich bin vermutlich die einzige, die noch lebt“, meint Epstein nachdenklich. „Andererseits hat es mich gefreut, dass dieses Unrecht endlich anerkannt wird.“ Niemals dürften diese Verbrechen vergessen werden. Doch zu vergeben, das sei ihr irgendwie gelungen.
Eine Jüdin macht den Hitlergruß #
Ein Wunder angesichts dessen, was dieser Frau in ihrer Heimat widerfahren ist. Am 13. Juli 1922 als Trude Grünwald in Wien-Brigittenau geboren, ist ihr die eigene, jüdische Identität lange nicht bewusst. Ihr Vater, ein sozialdemokratischer Freidenker und Atheist, verbietet zu Hause jegliche religiöse Praxis. Seine erzieherische Maxime lautet vielmehr: Sagt immer die Wahrheit!
Als die Familie mit den zwei älteren Söhnen und der jüngeren Tochter 1930 in den neuen Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt übersiedelt, erlebt die damals achtjährige Trude erstmals, dass sie offensichtlich anders ist. „Saujüdin!“ schreien ihre Volksschulkollegen im Chor. „Ich bin mir vorgekommen wie jemand, der eines Verbrechens angeklagt wird, das er nie verübt hat“, erzählt sie unweit des Horrors von einst. „Da habe ich mir geschworen: Wenn ich je Kinder habe, dann werde ich darauf bestehen, dass sie eine jüdische Identität besitzen. Dann werden sie wenigstens nicht so entsetzt sein wie ich, wenn ihnen Ähnliches passiert.“
Und es passiert viel im Wien von damals: Am 12. Februar 1934 sieht Trude Grünwald vor dem Karl-Marx-Hof ihren ersten Toten. Und auf dem Erich-Fried-Gymnasium, dessen Besuch sie sich als Mädchen hart erkämpft hat, muss sie als Jüdin doppelt so viel leisten wie nichtjüdische Freunde. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wird die Lage noch unerträglicher: Im Auftrag ihres älteren Bruders Otto – der Vater muss längst bei Verwandten in Jugoslawien als Vertreter für Textilien arbeiten – fährt sie just am 15. März 1938, dem Tag von Hitlers Triumphzug durch Wien, zur jugoslawischen Botschaft am Schwarzenbergplatz, um Visa zu beantragen. Mit einer „Bund Deutscher Mädel“-Uniform verkleidet, trifft sie in der Stadtbahn auf euphorische Menschenmassen. „Da hat mich plötzlich eine Frau gefragt: Fährst du auch zum Heldenplatz, um den Führer zu begrüßen?“, erinnert sich Epstein. „Und ich habe gesagt: Ja! Das war meine erste Lüge. Damals bin ich erwachsen geworden.“ Am Ring sieht Trude selbst Hitlers Wagenkolonne vorbeirauschen – und hebt wie zehntausende andere die rechte Hand. Eine spontane Aktion, für die sie sich später schämen wird, ohne die man sie aber „womöglich gelyncht“ hätte.
Was dann beginnt, ist eine unglaubliche Fluchtgeschichte, die Epstein in ihrer Autobiografie „Es gibt einen Weg“ (siehe unten) detailreich beschreibt: Im Juli 1938 verlässt sie mit ihrer Mutter Wien – die Brüder Otto und Kurt konnten sich bereits nach London retten –, fährt mit dem Zug und einem Touristenvisum in der Tasche nach Zagreb, besteigt nach Visa-Ablauf mit dem zusehends depressiven Vater einen Dampfer Richtung Albanien und haust monatelang unter widrigsten Bedingungen in der Hafenstadt Durrës. Mit Deutsch- und Französischunterricht schafft es die junge Frau, ihrem aus den Fugen geratenen Leben einen Sinn zu geben. Auch der italienische Konsul, der nach der Besetzung Albaniens durch Mussolini um Ostern 1939 zum Gouverneur wird, bittet um Nachhilfe und stellt der 17-Jährigen ein eindrucksvolles Dokument aus, das sie als seine persönliche Freundin ausweist.
Neben der Unterstützung anderer Menschen hat sie freilich auch ihr eigener Kampfesgeist stets aufrecht gehalten – ähnlich wie bei Scarlett O’Hara, der Heldin des Films „Vom Winde verweht“, nach der sich Trude Grünwald nach ihrer Ankunft in London nennt. Jahrelang muss sie als Näherin arbeiten, doch abends besucht sie einen Kurs für Personalmanagement, studiert später Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Oxford und schließlich Entwicklungsökonomie und Anthropologie in Manchester. Eine Woche vor ihren Abschlussprüfungen zieht sie sich durch einen defekten Heizstrahler schwerste Verbrennungen zu: Stur, wie sie ist, absolviert sie die Prüfung also im Spital – und erhält brillante Noten.
Keine Angst mehr, aber große Träume #
Große Glücksmomente gefolgt von tiefen Krisen: So kommt es oft im Leben von T. Scarlett Epstein. Als hosentragende Pionierin der Sozialanthropologie setzt sie mit ihrer teilnehmenden Feldforschung in Südindien und Papua-Neuguinea Maßstäbe und führt mit ihrem Mann Bill Epstein eine fruchtbare Liebes- und Arbeitsbeziehung. Doch sie erleidet auch zahllose Fehlgeburten, bis sie ein Mädchen adoptiert und ein zweites selbst zur Welt bringt; und sie geht am Krebs beinah zu Grunde.
„Im Grunde bin ich ein einziges, gehendes Wunder“ sagt die mehrfache Großmutter heute in ihrer Heimat Wien, wo sie sich seit ihrer ersten Rückkehr 1952 immer mehr Zuhause fühlt. Angst hat sie in ihrem Alter keine mehr, dafür aber hartnäckige Träume: dass die Religionen einander in Respekt begegnen mögen; und dass die Gräuel der Geschichte nie vergessen werden. „Alle fragen mich, warum ich nicht die Füße hochlege und die Zeit, die mir bleibt, einfach genieße“, schreibt sie am Ende ihrer Autobiografie. „Doch sie verstehen nicht, dass ich nichts anderes kenne, als auf dem Weg zu sein.“
AUTOBIOGRAFIE #
Glück und Not für mehr als ein Leben
„Nie hätte ich gedacht, mein Lebensweg könnte ein so steiniger werden“, schreibt T. Scarlett Epstein in ihrer Autobiografi e „Es gibt einen Weg“, die 2011 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienen ist. „Anfangs kam mir nicht in den Sinn, Geschlecht, Religion oder Rasse könnten meinen rechtmäßigen Weg behindern, noch konnte ich mir die Drehungen und Wendungen ausmalen, die mein Leben nahm.“ Dieses Leben gegen alle Wirrnisse des Schicksals kommt im Titel der englischen Originalausgabe von 2005 („Swimming Upstream. A Jewish Refugee from Vienna“) etwas besser zum Ausdruck als in der deutschen Übersetzung von Katharina Laher. Doch auch in der deutschen Ausgabe offenbaren sich der scharfe Intellekt, die Beobachtungsgabe und die sprachliche Versiertheit Epsteins. Eine bewegende Lektüre, die punkto Dramatik jede Fiktion in den Schatten stellt. (dh)
Es gibt einen Weg Eine Jüdin aus Wien. Von T. Scarlett Epstein. Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2011, 311 S., 21,–.