Die größte Flüchtlingsgruppe#
Der Schriftsteller Dragan Perak ist einer von 90.000 bosnischen Flüchtlingen, die 1992 nach Österreich kamen#
Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 28. November 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Nada Andjelic
Perak schrieb eine Autobiografie, auch aus Dankbarkeit gegenüber Österreich.#
Wien. Sie sind die größte in Österreich verbliebene Flüchtlingsgruppe. Zwischen 1992 und 1995 hat der Krieg 90.000 Menschen aus Bosnien und Herzegowina nach Österreich vertrieben. Mehr als 60.000 davon - also zwei Drittel - sind hier geblieben. Zum Vergleich: 1956 flohen 180.000 Ungarn nach Österreich, 84.000 wurde Asyl gewährt, gerade einmal 18.000 blieben auch hier. Und 1968, nach dem "Prager Frühling", flüchteten 162.000 Tschechen und Slowaken nach Österreich, 12.000 blieben.
Als im Sommer 1992 die Bosnien-Kriege ausbrachen, war Dragan Perak 30 Jahre alt. Er ist einer der 60.000 bosnischen Flüchtlinge, die bis heute in Österreich leben. In seinem neuen Buch "Geh fort und dreh dich nicht um" schildert er eine jugoslawische Odyssee von goldenen Zeiten über traumatische Kriegserlebnisse bis zur Ankunft in seiner "neuen Heimat", wie er Österreich heute bezeichnet.
Das erste Kapitel seines Buchs beginnt so: "Es war einmal ein Märchenland." Perak wuchs unbeschwert in einem Dorf nahe Mrkonjic Grad in Bosnien-Herzegowina auf. "Bis zum Kriegsausbruch wurde nicht über Religion und Ethnie gesprochen. Diese Fragen kamen gar nicht erst auf", betont der Autor im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". In seiner Kindheit kannte er nicht die Bedeutung religiöser Feiertage. Im Fastenmonat Ramadan sammelte er - als Christ - gemeinsam mit moslemischen Kindern Geld und Süßigkeiten in der Nachbarschaft.
Perak hatte damals - wie er heute meint - alles, was er brauchte, und noch viel mehr. Die Arbeit seines Vaters, der in den 1980er Jahren im Irak als Leiter einer Maurergruppe arbeitete, ermöglichte ihm ein unbeschwertes Leben. Nach Beendigung des Studiums der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Sarajewo - er spricht von einer "traumhaft schönen Zeit" - arbeitete er ab 1988 als Koordinator aller Bibliotheken der Region Bihac in der gleichnamigen Stadt und baute sich einen großen Freundeskreis auf. "Einer für alle. Alle für einen. Es gab kein Problem, das wir nicht gemeinsam lösen konnten", heißt es im Buch. Als "Barockzeit" bezeichnet der Autor seinen Lebensstil damals, als er sorgenfrei dem Leben und der Liebe frönte.
Flucht wird zur Odyssee#
Zu Silvester 1990/1991 fuhr Perak mit Freunden in das kroatische Rijeka. Mitten im ersten Lied nach Mitternacht begann die dalmatinische Band im Hotelsaal plötzlich Ustasa-Gedichte zu singen. Die Freunde waren unter Schock und "tanzten an diesem Abend nicht mehr". Da die meisten Hotelgäste aus Bosnien kamen, sangen nur zehn Paare weiter. Es war der Anfang "des weniger schönen Lebens".
Am 27. September 1992, als man bereits Kanonenschüsse aus der Richtung Jajce hörte, brach Perak gemeinsam mit seinem Nachbarn in dessen Bus nach Wien auf. Der letzte Ratschlag seiner Mutter vor der geheimen Flucht gab dem Buch auch seinen Titel: "Geh fort und dreh dich nicht um. Hier gibt es kein Leben mehr für dich." Doch die Flucht wurde zur Odyssee. Perak wollte zu einer befreundeten Familie in Wien, die sich jedoch gerade in Serbien aufhielt. Er verließ den Minibus und erreichte per Anhalter über Belgrad und Novi Sad seine Verwandten aus Wien, mit denen gemeinsam er schließlich am 6. Oktober 1992 in der Wiener Tullnergasse ankam. "Ich war verwirrt, verängstigt, schmerzerfüllt und orientierungslos", erzählt er.
Sein Onkel zwang ihn zwei Monate später zu arbeiten. Perak nahm eine Stelle als Tagelöhner und als Straßenkehrer bei der Magistratsabteilung 48 an. Auch Hausbesorgertätigkeiten seiner Tante übernahm er, ging einkaufen, kochte und musste seinen Onkel bedienen. Österreichische Mitbewohner im Haus - Perak nennt sie seine "österreichischen Eltern" - halfen ihm, die Torturen auszuhalten, und motivierten ihn zum Ausbruch. Er quartierte sich in einem Flüchtlingsheim in Wien-Brigittenau ein und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Heute ist er Berater und Trainer im arbeitsmarktpolitischen Bereich.
In Österreich wurden die bosnischen Flüchtlinge großteils als "De-facto-Flüchtlinge" betreut. Sie galten nicht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Das Innenministerium gewährte auf bestimmte Zeit ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht und bildete rechtliche Konstruktionen wie die "Bosnier-Verordnungen" und den "Bosnier-Erlass". Die "De-facto"-Aktion erreichte im Sommer 1993 mit 47.000 betreuten Flüchtlingen ihren Höchststand.
Provokation war der Anlass#
Die Asylgesetze wurden seither mehrfach verschärft. "Xenophobie und Ausgrenzung sind nur zwei der Gründe", schreibt Perak. Eine öffentliche Beschimpfung war Anlass für ihn, sein Buch endlich zu verfassen. Als er vor einem Jahr einen Vortrag hielt, provozierte ihn ein Zuhörer: Ausländer nähmen den Österreichern die Arbeitsplätze weg, sie sollten besser Straßen kehren. Perak blieb gelassen: "Ich bin Ihnen äußerst dankbar dafür, dass sie mich dazu inspiriert haben, mich endlich mit meinem Leben auseinanderzusetzen." Ohne den Vorfall hätte sich sein Buchprojekt noch länger verzögert. "Ich bin froh darüber", sagt der Autor zur "Wiener Zeitung" und lacht.
Er versteht seine Autobiografie als Danksagung. "Ich trage Österreich im Herzen und möchte dem Land zeigen, wie dankbar ich bin", erklärt der Schriftsteller, der zu seiner Buchpräsentation vergangenen Freitag in Trachtenjacke, Trachtenhut und rot-weiß-roter Krawatte erschien. In seinem Zufluchtsland habe er "alles erhalten, was ich brauche". Ebenso solle sein Werk aber auch einen ebenso historisch-wissenschaftlichen wie privaten Einblick in eine dramatische Zeit liefern.
Da es noch immer keine getrennt aufgeschlüsselten Statistiken für die ehemaligen jugoslawischen Länder gibt, fehlen genaue Angaben über die Arbeitsmarktsituation der Bosnier. 66 Prozent der aus Ex-Jugoslawien stammenden Menschen waren 2012 laut Integrationsbericht erwerbstätig.
Seit 2009 ist Perak Integrationsbotschafter in Österreichs Schulen bei "projektXchange". "Integration ist kein zeitlich gerahmter Prozess", sagt er, "sie kann ein Leben lang dauern."