Ich bin ein hellwacher Zeitzeuge#
Andreas Kövary im Interview mit dem Fotographen Erich Lessing
Mit freundlicher Genehmigung aus der Wiener Zeitung Samstag/Sonntag, 10./11. Juli 2010.
Der Fotograf Erich Lessing erzählt von seinen verschlungenen Lebenswegen: den frühen Jahren in Palästina, den Erfahrungen bei der Fotoagentur „Magnum“, den Erlebnissen beim ungarischen Aufstand 1956 – und er erläutert seinen skeptischen Blick auf Europa und die Welt.
Wiener Zeitung: Herr Lessing, beginnen wir mit Ihrem Lebenslauf, der sich ja viel spannender gestaltet hat, als es Ihnen wohl lieb gewesen wäre.
Erich Lessing: Ja, aber begonnen hat er ganz harmlos. Meine Eltern wohnten im Ludo Hartmann-Hof, einem Gemeindebau in der Josefstadt, und ich war in meinem ersten Lebensjahrzehnt einfach ein glücklicher Bub. Dann starb mein Vater, und ich kam ins Realgymnasium in der Albertgasse. Das war die Zeit der Vaterländischen Front und der Ermordung von Dollfuß – zwischen 1934 und 1938 ging es in Wien ja recht turbulent zu. Die Lehrer, die uns unterrichteten, waren schon ziemlich „verbunden“ – das heißt, viele waren dem nationalsozialistischen Gedankengut keineswegs abgeneigt, was sich allerdings erst beim Anschluss Österreichs 1938 so richtig zeigte, als sie sich die bis dahin illegalen Parteizeichen offen ansteckten. Es gab jedoch auch Rechtschaffene unter ihnen wie zum Beispiel unseren Mathematiklehrer. Als wir jüdischen Kinder in einer „Judenklasse“ aufgefangen worden waren, begrüßte er uns am Jahresanfang mit den Worten: „Ich hoffe, dass Sie alle, die hier sitzen, die kommenden Zeiten gesund und heil überstehen werden.“ Eine solche Aussage ist zu jener Zeit sehr mutig gewesen.
Sie sind einer der wenigen, die diese „kommenden Zeiten“ heil überstanden haben – wie ist Ihnen die Flucht vor dem sicheren Untergang gelungen?
In jener Zeit, als noch die Parole galt: „Wer auswandern will, der kann ja auswandern – wenn er weiß, wohin, und wenn er Geld dazu hat“, in jener Zeit hat meine Mutter sich bemüht, für mich eine Möglichkeit zum Absprung zu finden. Nach der Kristallnacht im November 1938 erhielt ich ein Zertifikat für das „Technion“ in Haifa und eine Einladung zur Jugendeinwanderung in einen Kibbuz in Palästina. Das wurde uns jedenfalls versprochen – die Bestätigung ließ jedoch bis zum Kriegsausbruch auf sich warten. Teddy Kollek, der nachmalige Bürgermeister von Jerusalem, hat uns geholfen, sonst wäre ich wahrscheinlich gar nicht mehr weggekommen. Mit einem Freund bin ich dann von Triest kommend auf der „Galilea“ am 31. Dezember 1939 in Haifa gelandet – mit dem letzten Schiff, das noch Palästina anlaufen konnte.
Dann standen Sie also ohne Matura, ohne Bekannte, ohne alles in einem fremden Land.
Und wurde als Radiotechniker ausgebildet, wozu ich nicht das geringste Geschick hatte. Ich wohnte mit deutschsprachigen Buben meines Alters in einem Schülerheim bei Haifa. Nach etwa zwei Jahren stieß ich zu der Wiener Jugendeinwanderungsgruppe, die schon längere Zeit im Kibbuz Neve Eitan nahe der Stadt Bet- Shean in der Jordansenke lebte. Dort brach eine glückliche Zeit für mich an, mit einem befreundeten Fischmeister legten wir Stromschnellen und Karpfenteiche an den Dan-Quellen an. Aber nach etwa zwei Jahren hatte ich von diesem Landleben genug, ich bin ja doch mehr ein Stadtmensch, und bin zurück nach Haifa und habe in einem Radiogeschäft zu arbeiten begonnen. Wenig später wurde ich Taxichauffeur, bin viel in der Nacht gefahren, hatte viel Zeit zum Lesen und Musikhören. Es war eine sehr lehrreiche Zeit. Zum Beispiel hatte ich eine Abmachung mit einem Fahrgast, den ich zu den Konzerten des „Palestine Philharmonic Orchestra“ brachte – er hatte ein Abonnement, und ich hatte auch eines, und am Rückweg besprachen wir dann unsere Musikerlebnisse. So kam ich in den Genuss, Konzerte von Felix von Weingartner zu hören, und 1940 habe ich Bronislaw Hubermann am Strand von Haifa auf einem Tisch Violine spielen sehen. Leider bin ich nach einem halben Jahr hinausgeflogen, weil ich regelmäßig erst eine halbe Stunde nach dem Chef in der Zentrale erschienen bin.
Haben Sie die gesamte Kriegszeit in Palästina verbracht?
Ich habe von 1940 bis 1946 in Palästina gelebt. Dann bin ich Fahrer für die Britische Armee geworden und habe abwechselnd englische und jüdische Offiziere nach Beirut, Bagdad und Täbris chauffiert. Schließlich bin ich in Natanja, das liegt nördlich von Tel Aviv, Strand- und Kindergartenfotograf geworden.
Hatten Sie da schon fotografische Kenntnisse, oder haben Sie sich die selber beigebracht?
Learning by doing war die Parole, die uns alle damals über die Runden gebracht hat. Zurückgekehrt nach Wien, habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um nach Paris zu kommen, um richtig Fotografie zu studieren, auch das Filmemachen hat mich damals interessiert. Aber das Visum nach Frankreich ließ endlos auf sich warten, also machte ich mich auf Arbeitssuche bei den verschiedenen Agenturen. Und wieder hatte ich Glück: Im Vorzimmer von „Associated Press“ saß eine hübsche junge Dame, bei der ich meine Karte hinterließ. Eine Woche später verständigte sie mich, dass bei „AP“ ein Fotograf angestellt werden sollte. Das war wirklich im letzten Moment, denn ich war schon völlig blank. Bei „AP“ sah ich diese junge Dame wieder, sie ist seit 63 Jahren meine Frau und die Mutter meiner drei Kinder. Sie arbeitete später als Journalistin bei „Reuters“ und beim „Daily Telegraph“, wurde dann von der Weltgesundheitsorganisation nach Genf geholt, wo sie die Leiterin des Bildarchivs wurde.
Und wie ließ sich das mit dem Aufbau einer Familie verbinden?
Naja, ich war ja damals viel unterwegs, arbeitete für „Heute“ und „Quick“ in München, die mich in alle Himmelsrichtungen schickten, weil ich als Österreicher im Gegensatz zu deutschen Staatsbürgern weniger Visaprobleme hatte. Geheiratet haben wir 1947 – hauptsächlich deshalb, weil wir eine Spanienreise machen wollten und als Unverheiratete damals kein Doppelzimmer bekommen hätten.
Nach Kriegsende machte die Pariser Photoagentur „Magnum“ Furore. Eine Zugehörigkeit zu „Magnum“ ist für einen Fotografen so etwas wie ein Ritterschlag gewesen. Wie sind Sie zu „Magnum“ gekommen?
David Seymour, mit Capa, Roger und Cartier-Bresson einer der vier Begründer der Agentur, hat mich angesprochen, und ich habe nicht lange gezögert; nach Ernst Haas bin ich dort der zweite Österreicher gewesen. Die Stärke von „Magnum“ bestand vor allem darin, dass es wie eine Verteilungs-Kooperative funktionierte: Man machte eine Reportage und bot sie Magazinen an. Oder man wurde direkt von „Magnum“ mit einer Geschichte betraut, die in den meisten Fällen reißenden Absatz fand. Jeder konnte vorschlagen, was er wollte, und seine Bilder über die Agentur vertreiben. Das war die Zeit der großen Konferenzen, aus denen sich die heutige Europäische Union entwickelt hat, und ich war stets im Windschatten dieser Treffen zu finden. Ich war zum Beispiel 1950 in Straßburg bei der ersten Versammlung des „Council of Europe“, oder bei der „European Recovery“, die den Marshall-Plan geleitet hat. Für die „ERP“ war ich auch 1953 unterwegs, um europäische und türkische Kohlengruben zu fotografieren. Und „Fortune Magazin“ schlug ich 1957 einen großen Bericht über die Industrialisierung Afrikas vor, und war dann drei Monate in Afrika unterwegs.
Würden Sie sich als Weltenbummler bezeichnen? Oder als Weltbürger?
Weltbürger bestimmt, aber Weltenbummler? Naja, meine Arbeit war viel mit Reisen verbunden, aber es hätte ruhig ein bisschen weniger sein können. 1957 sind wir aus Genf nach Wien übersiedelt, haben ein Grundstück in Dornbach gekauft und einen für den Stil der fünfziger Jahre typischen Bungalow gebaut.
Aber Sie sind weiterhin unterwegs gewesen, und so etwas wie ein Ostexperte unter den Fotografen geworden.
So? Ich weiß nur, dass ich im Kalten Krieg sehr viel unterwegs gewesen bin zwischen Warschau, Budapest und Prag, und auch in Jugoslawien. Es lag eine unbeschreibliche Stimmung in der Luft, man wusste nie so recht, was man anpacken konnte und was nicht. Russische Soldaten bei einer Kundgebung vor der Rolandstatue in Travemünde fotografieren – durfte man das eigentlich, oder nicht? Man tat es einfach und hoffte, dass es schon gutgehen würde. Die einfachsten Dinge gingen nicht – aber beispielsweise Parteichef Gomulka, der gerade die ersten freien Wahlen in Polen zugelassen hatte, zu begleiten und ihn beim Mittagessen im eigenen Hause zu fotografieren, das war kein Problem.
In die Annalen der Fotoreportage sind Sie mit einer Dokumentation über den Ungarischen Volksaufstand eingegangen. War das dem Zufall oder einem Auftrag zu verdanken?
Von Auftrag war keine Rede. Als am 23. Oktober 1956 der Aufstand ausbrach, setzte ich mich mit Gerd Bacher in den gelben MG meiner Frau, um nach Budapest zu fahren. Dort fanden wir bürgerkriegsähnliche Zustände vor, ich packte mein Equipment aus und machte mich an die Arbeit. In den letzten Oktobertagen verließen die russischen Panzer die Stadt, und ich folgte ihnen fast bis an die ukrainische Grenze. Dann stellte ich fest, dass die Panzer umgedreht und offensichtlich Weisung erhalten hatten, zurückzufahren. Imre Nagy hatte den furchtbaren Fehler gemacht, aus dem Warschauer Pakt austreten zu wollen, und damit Ungarns Schicksal besiegelt. Und ich habe die Fotos dazu geliefert. Obwohl ich alles andere als ein Kriegsberichterstatter bin, ich habe mich nie für Kriege interessiert, immer nur für die Politik dahinter.
Sind Sie deshalb auf Kunstreportagen umgestiegen?
Die Pariser Bürochefin von „Paris Match“ hat mich eines Tages gefragt: „Warum machst du nicht was über Mozart, mit deiner Großbildkamera?“ Das wurde zum Auslöser für meine ersten Kunstbücher, von denen ich bis heute etwa 45 herausgegeben habe. Von „Imago Austriae“, „Die Odyssee oder „Die Bibel“ bis hin zu meinem bisher letzten, den „Détails du Louvre“. Ich habe aber auch bei den Salzburger Festspielen aufgenommen und auf so manchen Filmsets – angefangen beim „Engel mit der Posaune“ über „Moby Dick“, „Alexis Sorbas“, „Sound of Music“, und „Doktor Schiwago“ bis zum Freud-Film von John Huston in Wien.
Ihre Portraits scheinen auch bei Staatsmännern beliebt gewesen zu sein.
De Gaulle hat mich über seinen Pressechef extra anfordern lassen, um ihn auf seiner Reise in den Algerienkrieg zu begleiten. Adenauer beim Pfingstgottesdienst, die Großen Vier – Eisenhower, Macmillan, Bulganin und Faure – im Hof des Völkerbundpalastes in Genf. Oder Herbert von Karajan beim Einstudieren von „Peter und der Wolf“ mit der jungen Romy Schneider.
Zum Schluss die berüchtigte Frage, die jedem Menschen mit jüdischem Hintergrund hierzulande gestellt wird: Fühlen Sie sich als jüdischer Österreicher oder als österreichischer Jude?
Wenn überhaupt, dann fühle ich mich beiden Identitäten zugehörig, wobei ich sagen muss, dass ich kein gläubiger Mensch bin, aber trotzdem zu den hohen Feiertagen in die Synagoge gehe, und alle meine Kinder sind Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde. Meine Tochter Hannah ist Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, und setzt sich auch für Roma und andere Minderheiten ein. Abgesehen davon bin ich aktives Mitglied einer österreichischen Freimaurerloge, zu der ich ein starkes Zugehörigkeitsgefühl empfinde
Wie sehen Sie die Zukunft der Welt?
Das große Friedensprojekt, das wir nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall des Kommunismus durch die Gründung der Europäischen Union und die Einführung des Euro ins Leben gerufen haben, dürfte wohl gescheitert sein. Die Hoffnung, dass wir das große Nord-Süd-Gefälle ausgleichen würden können, hat sich als Illusion erwiesen. Wir haben in Europa sozusagen italienische Verhältnisse – der Norden ist reich, und der Süden ist arm, und das kleine Europa scheint nicht in der Lage zu sein, diese Diskrepanz zwischen Mailand und Palermo zu überbrücken. Übrigens könnte man diese Einschätzung der EU auf den gesamten Planeten übertragen . . .
Und wie beurteilen Sie das Thema Terrorismus und Islamophobie?
Demokratie ist ein schlechtes Machtmittel, hat Churchill gesagt, aber wir kennen leider kein besseres. Liberal-autokratische Regimes à la Berlusconi sind vielleicht die Zukunft, so hart das auch klingen mag. Und was die islamistische Gefahr betrifft: Wir haben einst fast zwei Jahre in der Türkei gelebt und oft den Muezzin gehört, wenn er die Gläubigen zum Gebet rief. Aber damals hatten die Minarette noch keine Lautsprecher – wenn Sie verstehen, was ich meine.
Sie sind also ein rabenschwarzer Pessimist?
Nein, ich bin nur ein hellwacher Zeitzeuge.
Zur Person#
Erich Lessing, als Sohn einer gutbürgerlichen jüdischen Familie am 13. Juli 1923 in Wien geboren, rettete sich mit sechzehn Jahren nach Palästina und überlebte als Einziger seiner Familie den Holocaust. In Palästina arbeitete er in einem Kibbuz und schlug sich als Taxifahrer durch. 1947 kehrte er nach Europa zurück und lernte seine spätere Frau Traudl kennen, die Journalistin bei der „Associated Press“ war. Damals fasste er den Entschluss, sein Hobby zu seinem Beruf zu machen und Fotoreporter zu werden. Er wurde Reportage-Fotograf bei „AP“, und 1951 Mitglied bei „Magnum“ - was ihm die Türen zu den renommiertesten Zeitschriften und Magazinen wie „Life“, „Paris Match“, „Epoca“ oder „Quick“ öffnete und ihn international bekannt machte.
Erich Lessing gilt heute als Doyen der österreichischen Fotografie. Sein Opus magnum, „Vom Festhalten der Zeit“, zeigt einen 25 Jahre lang rastlos unterwegs gewesenen Menschen, der sich mit seiner Kamera auf die Spuren der Zeit geheftet und auf anschauliche Art europäische Erinnerungsarbeit geleistet hat. Bilder wie das „Österreich ist frei!“-Foto mit Leopold Figl und den auf dem Balkon des Belvederes versammelten Außenministern der Alliierten vom 15. Mai 1955 oder der Zyklus über den ungarischen Volksaufstand 1956 sind weltberühmt geworden. Lessings Leidenschaft für Bildende Kunst und Musik hat in mehr als vierzig Kunstbüchern Niederschlag gefunden. Aus seinem gewaltigen Material hat er ein Archiv mit rund 60.000 Fotos zusammengetragen.
Wichtigste Preise: Karl Renner-Preis, Imre Nagy-Medaille, American Art Directors Award, Prix Nadar für sein Gesamtwerk, Großer Österreichischer Staatspreis für künstlerische Fotografie.