Page - 42 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
Image of the Page - 42 -
Text of the Page - 42 -
wegen eines Einbruchsdelikts aus einem (Ost-)Gefängnis entlassen wird, an
der Bornholmer Straße, dem Grenzübergang, der ab 1961 die Bezirke Prenz-
lauer Berg und Wedding verband, zum ersten Mal der Mauer ansichtig: „Das
ist also die Mauer, die teure, moderne Mauer, zu deren Bau 9500 Kubikmeter
Material verwendet worden sind, eine Menge, die ausgereicht hätte, fünfzig bis
sechzig viergeschossige Wohnhäuser zu errichten.“ (LV 77) Knolle ist sowohl
über die Beschaffenheit der Mauer als auch über die Materialkosten bestens
informiert, die sich auf 21,5 Millionen D-Mark belaufen, wie der Text penibel
auflistet:
Für die Mauer 7,5 Millionen Mark
Für den Stacheldraht 6,5 Millionen Mark
Für Todes- und Schußstreifen 3,5 Millionen Mark
Für Schlagbäume, Wachttürme, Lautsprecher,
Telefonleitungen 4,0 Millionen Mark (LV 77 f.)
Im Verlauf der Handlung verstrickt sich Knolle in ein zweifaches Agentennetz:
Zunächst erpresst ihn das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (SSD) zur
Mitarbeit. Er soll den westdeutschen Financier von Fluchttunneln, den wohlha-
benden Geschäftsmann Otto Fanzelau, in den Osten verschleppen. Zu diesem
Zweck wird Knolle von Fluchthelfern durch einen Fluchttunnel, dessen Bau
Simmel detailliert, bis hin zu den Kosten beschreibt (vgl. LV 38), in den Westen
geschleust, wo er sich an den für den amerikanischen Geheimdienst tätigen
Kommissar Prangel wendet, der Knolle wiederum zwingt, für den CIC zu arbei-
ten, der die Entführung Fanzelaus verhindern will. Ähnlich wie in Der Spion,
der aus der Kälte kam rückt die „Zweiseitigkeit der Geheimdienstmänner ins
Zentrum der Geschichte“.65 Schließlich stellt sich heraus, dass der eigentliche
Drahtzieher der Fluchttunnel der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst ist, der sie
dazu benützt, seine Agenten in den Westen senden.
Auch in Uwe Johnsons Erzählung Eine Kneipe geht verloren (1965)66 und sei-
nem Roman Zwei Ansichten (1965) wird Fluchthilfe zum Thema, allerdings
weicht Simmel, im Gegensatz zu Johnson, „dem handfesten Effekt nirgends aus,
selbst auf die Gefahr der Knalligkeit nicht“,67 wie Otto F. Beer in einer Doppel-
rezension 1966 bemerkt hat. Johnson, der Interviews mit Fluchthelfern führte,68
war die Thematik auch durch seine spätere Frau Elisabeth vertraut, die Ende
65 Otto F. Beer: Zweimal das zweigeteilte Berlin. In: Die Zeit, 7.1.1966.
66 Die Erzählung erschien 1965 in der ersten Nummer der von Hans Magnus Enzensberger her-
ausgegebenen Kulturzeitschrift Kursbuch.
67 Beer: Zweimal das zweigeteilte Berlin, 7.1.1966.
68 Uwe Johnson: Ich wollte keine Frage ausgelassen haben. Gespräche mit Fluchthelfern. Berlin:
Suhrkamp 2010.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
42 1 Die Grenze
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918