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Reisen ins gelog’ne Land
Der ‚reale Sozialismus‘ als Enttäuschung – Reinhard Federmanns Das Himmelreich
der Lügner (1959)
Die Kinder – und besonders die anthropomorphisierten Hunde – aus den
Jugendromanen Katz’ und Kellers könnte man nachgerade als paradigmatische
Figuren der Unvoreingenommenheit bezeichnen, da sie mit kulturellen Kon-
ventionen, politischen Ideologien und Diskursen wenig oder keine Erfahrung
haben und darum auf den neuen Erfahrungsraum ‚unvoreingenommen‘ – posi-
tiv oder negativ – zu reagieren scheinen. Sie eignen sich ausgezeichnet, um die
Frage nach der Bewertung des politischen Raumes hinter der Grenze als offen
darzustellen und damit der gegebenen Antwort besonderes Gewicht zu verlei-
hen. Auch die nicht-fiktionalen Propagandatexte, die behaupten, Reiseerfahrun-
gen österreichischer oder internationaler Delegationen wiederzugeben, bevor-
zugen parteilose, politisch indifferente – oder aber sogar kommunismuskritische
– Personen. In der Logik des Augenzeugen-Narrativs gilt die jeweilige Bewer-
tung des Gesehenen als besonders vertrauenswürdig, wenn die Figur des Augen-
zeugen oder der Augenzeugin trotz fehlender ideologischer Zustimmung oder
gar trotz ideologischer Gegnerschaft zu einem positiven Urteil über die Sowje-
tunion bzw. die kommunistischen Staaten kommt.
Andererseits erscheinen aus der Sicht der kommunistischen Propaganda
besonders jene Fälle als bedrohlich, in denen überzeugte Kommunisten wie Gide
vom Gesehenen entsetzt sind und zu Kommunismuskritikern werden, da sich
die Vorstellung vom vermeintlichen Arbeiterparadies als Täuschung herausge-
stellt hat. An diesem prekären Punkt des Diskurses setzt Reinhard Federmanns
Roman Das Himmelreich der Lügner (1959)67 an. Federmann nützt das Motiv
der Reise in die Sowjetunion – hier allerdings der erzwungenen ‚Reise‘ eines
politischen Flüchtlings in die Emigration – als narratives Gerüst für einen bit-
teren politischen Desillusionierungsprozess, den sein Protagonist im Verlauf des
Romans durchzumachen hat. Die Handlung wird als Rückblick des ehemaligen
sozialdemokratischen Aktivisten und Februarkämpfers Bruno Schindler erzählt,
der sich an die Zerschlagung der österreichischen Arbeiterbewegung und seine
darauf folgende Flucht in die UdSSR im Jahr 1934 erinnert. Seinem frühen sozi-
alistischen Engagement liegt der Glaube an eine bessere Zukunft zugrunde. Dies
zeigt sich, wenn er am Vorabend der Februarkämpfe angesichts einer nach Hein-
rich Heine benannten Straße in Wien die Strophe aus dessen Deutschland, ein
Wintermärchen (1843) memoriert:
67 Reinhard Federmann: Das Himmelreich der Lügner. München: Langen Müller 1959 [im Fol-
genden als HL mit fortlaufender Seitenzahl zitiert].
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
74 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918