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höriger der sowjetischen Besatzungsmacht nach Österreich zurück. Als er dort
immer stärker in den propagandistischen Kleinkrieg der Besatzungsmächte ver-
wickelt wird, flieht er 1949 nach München, um einer Strafversetzung nach Mos-
kau zu entgehen.
Schindlers Glaube an die revolutionäre Mission des Einzelnen im histori-
schen Prozess, der bereits in Moskau ins Wanken kam, weicht dann angesichts
der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch die Rote Armee 1956 end-
gültig einer grundlegenden Resignation. „Wir sind das geblieben, was wir gewe-
sen sind, als der Vorhang aufging: Zuschauer. Die Rolle des Zuschauers, meine
Damen und Herren, besteht darin, das Spiel schweigend zu betrachten“, formu-
liert er in einer fiktiven Trauerrede (HL 508). Die Fallhöhe dieser Enttäuschung
haben die beiden dem Roman vorangestellten Mottos vorgegeben. Dementspre-
chend trägt das letzte Kapitel den Titel „Ein Himmelreich wird beerdigt“. Die
Geschichte der Enttäuschung linker Utopien, die der Roman über die histori-
schen Daten 1934 – 1937 – 1945 – 1956 erzählt, führt seinen Protagonisten
allerdings weder zu einer neuen Heilsideologie noch inthronisiert sie ihn als
„Richter“: „Ich bin nicht Richter über diese Zeit, ich bin ihr Opfer; eins freilich,
das die Schläge ihrer Vollzugsbeamten nur gestreift haben. Ich habe nicht Ursa-
che zu jammern, und doch wollen mir die Jubelrufe nicht über die Lippen.“
(HL 319)
Jubelrufe findet der Protagonist eben auch in Bezug auf die westliche Welt nicht.
Herbert Eisenreichs im Forvm 1959 erschienene Rezension erfasst sehr genau die
politische Heimatlosigkeit, die der Protagonist des Romans repräsentiert und die
den Text insgesamt prägt: „Er [Federmann] offeriert uns kein neues Heil: etwa
den Westen schlechthin; er begnügt sich damit, die Illusionen abzubauen. Er
postuliert keine neue Wahrheit, sondern entlarvt die Lügner.“69 Gerhard Fritsch
schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er in seiner Besprechung meint, Das Himmel-
reich der Lügner unterscheide sich von klischeehaften Erzählungen von „Enttäu-
schung, Verzweiflung und Bekehrung des Leftisten“, indem der Autor „seinen
Stoff aus der Sphäre der Tendenz“70 hebt. Die Erfahrung des Sowjetregimes mit
69 Herbert Eisenreich: Über die Pflicht im Nachhinein klüger zu sein. An Hand von zwei neuen
österreichischen Romanen: Reinhard Federmanns ‚Himmelreich der Lügner‘ (Langen Müller
Verlag, München) und Dorothea Zeemanns ‚Rapportbuch‘ (Biederstein-Verlag, München). In:
Forvm 6 (1959) H. 72, S. 456 f., hier S. 456.
70 Gerhard Fritsch: Hier kommt ein Mensch. Reinhard Federmann. In: Wort in der Zeit 8 (1962)
H.
3, S.
4–11, hier S.
9. Sogar Helmut Qualtingers berühmte Figur „Herr Karl“ schließt sich hier
an: „Bis Vieradreißg war i Sozialist. [...] heit bin i darüber hinaus
... i hab eine gewisse Reife, wo
mir die Dinge gegenüber abgeklärt sind“. Helmut Qualtinger: Der Herr Karl [15.11.1961 im
ORF; ab 30.11.1961 im Kleinen Theater in der Josefstadt; dann in den Kammerspielen und in
Deutschland.] In: Helmut Qualtinger: Werkausgabe. Hrsg. v. Traugott Krischke. Bd.
1, ‚Der Herr
Karl‘ und andere Texte fürs Theater. Wien: Deuticke 1995, S. 163–187, hier S. 169.
Reisen ins gelog’ne Land 77
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918