Page - 90 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
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Im totalitären Staat, so die Pointe des Witzes, hat das Regime die Macht zu
definieren, was wahr ist und was Lüge, ohne die Wirklichkeit beachten zu müs-
sen. Diese Definitionsmacht übt es auch gegenüber dem Reisenden aus. Ein
undurchschaubarer Polizeiapparat bestimmt, was ein Vergehen ist. Auf ironi-
sche, bisweilen sogar zynische Weise zeigt Fahrt ins Rote, wie die Selbstdarstel-
lungen totalitärer Regimes aufgefasst werden sollen, nämlich als dreiste Lügen.
Unvoreingenommenheit und Neutralität bedeuten unter diesen Voraussetzun-
gen gefährliche politische Naivität. „Ins Rote“ lässt sich nicht einfach eine ‚Fahrt
ins Blaue‘ unternehmen, wie das Wortspiel im Titel suggeriert, dort ist mit lebens-
bedrohlichen Konsequenzen zu rechnen.
Der letzte Teil der Szenenfolge schließt den Kreis zum ersten: Der „Unvor-
eingenommene“, der vom Repressionsapparat des Regimes ebenso willkürlich
wieder freigelassen wurde, wie er verhaftet wurde, trifft nach seiner Rückkehr
in den Westen den „Skeptiker“ wieder. Der hat mittlerweile seine Zweifel und
seine Angst abgelegt und ist seinerseits zu einem „Unvoreingenommenen“ gewor-
den, der Demokarpathien bereisen möchte. Der Zurückgekehrte ist in pointier-
ter Verkehrung der Ausgangssituation nun derjenige, der – auf der Grundlage
seiner Augenzeugenschaft – davor warnt, der karpathischen Propaganda zu
glauben. War er in der ersten Sequenz der ‚Doppelconference‘ noch der ‚Dum-
me‘, so ist dies nun sein Gesprächspartner. Die dramaturgische Anlage des Stü-
ckes entspricht einer klaren Stellungnahme darüber, wer tatsächlich Recht hat,
und durch das auf der Bühne Gezeigte soll auch das Publikum sich als Augen-
zeuge der Repression und der Willkürherrschaft hinter dem Eisernen Vorhang
ansehen.
Die Figur des Augenzeugen fungiert also innerhalb des Reise-Narrativs im
Kalten Krieg als ein Medium, das über sich hinaus weist auf einen spezifischen
Bereich der ‚Wirklichkeit‘, der eine (politisch) legitimierende Funktion besitzt.
ten und unter verschiedenen Formen der Diktatur ein und denselben Witz in jeweils den
Umständen angepaßter Verkleidung erzählen. Ein Beispiel für ein solches Evergreen unter den
Witzen ist der folgende, der im zaristischen Rußland entstanden ist, leicht verändert unter Hit-
ler erzählt wurde und heute in allen Ländern hinter dem Eisernen Vorhang kursiert: Aus einem
Zirkus, der im Städtchen gastiert, ist ein Bär ausgebrochen. Tagelang entrinnt er allen Nach-
stellungen. Der Schaden, den er anrichtet, wird immer größer. Schließlich setzen die Behörden
demjenigen eine ansehnliche Belohnung aus, der den gefährlichen Bären niederschießt. ‚Es ist
das beste, wir fliehen!‘ sagt ein Jude zum anderen. ‚Warum?‘ fragt der andere. ‚Du bist doch
kein Bär. Ich auch nicht.‘ ‚Geh hin und beweis es ihnen!‘“ Milo Dor, Reinhard Federmann: Der
politische Witz. München, Wien, Basel: Desch 1964, S. 322 f.
Friedrich Torberg kritisierte in Zusammenhang mit Der politische Witz von Dor/Federmann
die inflationäre Verwendung von Witzen, durch die diese Waffe abstumpfen würde. Vgl. Fried-
rich Torberg: Über den Witz. Rede für Radiosendung Gedanken zur Zeit, gesendet im Nord-
deutschen Rundfunk, 22.8.1965, 18.45–19.00h, 1.
Programm. Literaturarchiv der Österreichi-
schen Nationalbibliothek, Nachlass Reinhard Federmann, Sign.: 386/S211a.
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90 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918