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gekommen, und er wirft ihnen Kleider um, schenkt ihnen Titel und
Reichtümer, wie Napoleon seinen Marschällen, nimmt sie ihnen wieder ab, er
spielt mit ihnen, hetzt sie durcheinander. Unzählbar ist die Vielfalt der
Geschehnisse, ungeheuer die Landschaft, die hinter diese Ereignisse sich
stellt. Einzig in der neuzeitlichen Literatur, wie Napoleon einzig in der
modernen Geschichte, ist diese Eroberung der Welt in der „Comédie
humaine“, dieses Zwischen-zwei-Händen-Halten des ganzen,
zusammengedrängten Lebens. Aber es war der Knabentraum Balzacs, die
Welt zu erobern, und nichts ist gewaltiger als früher Vorsatz, der Wirklichkeit
wird. Nicht umsonst hatte er unter ein Bild Napoleons geschrieben: „Ce qu’il
n’a pu achever par l’épée je l’accomplirai par la plume.“
Und so wie er, sind seine Helden. Alle haben sie das Welteroberungsgelüst.
Eine zentripetale Kraft schleudert sie aus der Provinz, aus ihrer Heimat, nach
Paris. Dort ist ihr Schlachtfeld. Fünfzigtausend junge Leute, eine Armee,
strömt heran, unversuchte keusche Kraft, entladungssüchtige, unklare
Energie, und hier, im engen Raume prallen sie aufeinander wie Geschosse,
vernichten sich, treiben sich empor, reißen sich in den Abgrund. Keinem ist
ein Platz bereitet. Jeder muß sich die Rednerbühne erobern und dies
stahlharte, biegsame Metall, das Jugend heißt, umschmieden zu einer Waffe,
seine Energien konzentrieren zu einem Explosiv. Daß dieser Kampf innerhalb
der Zivilisation nicht minder erbittert ist als der auf den Schlachtfeldern, dies
als erster bewiesen zu haben, ist der Stolz Balzacs: „Meine bürgerlichen
Romane sind tragischer als eure Trauerspiele!“ ruft er den Romantikern zu.
Denn das erste, was diese jungen Menschen in den Büchern Balzacs lernen,
ist das Gesetz der Unerbittlichkeit. Sie wissen, daß sie zuviel sind, und
müssen sich – das Bild gehört Vautrin, dem Liebling Balzacs – auffressen wie
die Spinnen in einem Topf. Sie müssen die Waffe, die sie aus ihrer Jugend
geschmiedet haben, noch eintauchen in das brennende Gift der Erfahrung.
Nur der Überbleibende hat recht. Aus allen zweiunddreißig Windrichtungen
kommen sie her wie die Sansculotten der „Großen Armee“, zerreißen sich die
Schuhe auf dem Wege nach Paris, der Staub der Landstraße klebt an ihren
Kleidern, und ihre Kehle ist verbrannt von einem ungeheuren Durst nach
Genuß. Und wie sie sich umsehen in dieser neuen, zauberischen Sphäre der
Eleganz, des Reichtums und der Macht, da fühlen sie, daß, um diese Paläste,
diese Frauen, diese Gewalten zu erobern, all das wenige, das sie mitgebracht
haben, wertlos sei. Daß sie ihre Fähigkeiten, um sie auszunützen,
umschmelzen müßten, Jugend in Zähigkeit, Klugheit in List, Vertrauen in
Falschheit, Schönheit in Laster, Verwegenheit in Verschlagenheit. Denn die
Helden Balzacs sind starke Begehrende, sie streben nach dem Ganzen. Sie
alle haben das gleiche Abenteuer: ein Tilbury saust an ihnen vorbei, die Räder
sprühen sie an mit Kot, der Kutscher schwingt die Peitsche, aber darin sitzt
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131