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manchmal auch achtzehn Stunden, bis ihn irgend etwas aufriß aus dieser
Welt, zurück in die eigene Wirklichkeit. In diesen Sekunden des Erwachens
muß er jenen Blick gehabt haben, den Rodin ihm gab auf seiner Statue, dieses
Aufgeschrecktsein aus tausend Himmeln und dieses Rückstürzen in eine
vergessene Wirklichkeit, diesen entsetzlich grandiosen, fast schreienden
Blick, diese um die fröstelnde Schulter das Kleid anstraffende Hand, die
Gebärde eines vom Schlaf Gerüttelten, eines Somnambulen, dem jemand roh
seinen Namen zugeschrien. Bei keinem Dichter ist die Intensität des
Sichverlierens in sein Werk, der Glaube an die eigenen Träume stärker
gewesen, die Halluzination so nahe der Grenze der Selbsttäuschung. Nicht
immer wußte er die Erregung zu stoppen wie eine Maschine, das ungeheure
kreisende Schwungrad jäh aufzuhalten, Spiegelschein und Wirklichkeit zu
unterscheiden, eine scharfe Linie zu ziehen zwischen dieser und jener Welt.
Ein ganzes Buch hat man gefüllt mit Anekdoten, wie sehr er im Rausch der
Arbeit an die Existenz seiner Gestalten glaubte, ein Buch mit oft drolligen
und meist ein wenig grausigen Anekdoten. Ein Freund tritt ins Zimmer.
Balzac stürzt ihm entsetzt entgegen: „Denk dir, die Unglückliche hat sich
ermordet!“ und merkt erst an dem entsetzten Zurückprallen seines Freundes,
daß die Gestalt, von der er sprach, die Eugenie Grandet, nur in seinen
Sternenkreisen je gelebt. Und was diese so andauernde, so intensive, so
vollständige Halluzination von dem pathologischen Wahn eines Tollhäuslers
unterscheidet, ist vielleicht nur die Identität der in dem äußeren Leben und in
dieser neuen Wirklichkeit bestehenden Gesetze, die gleichen
Kausalbedingungen des Seins, nicht die Lebensform so sehr als die
Lebensmöglichkeit seiner Menschen, die, als hätten sie nur die Tür seines
Arbeitszimmers überschritten, von außen in sein Werk traten. Aber an
Dauerhaftigkeit, an Zähigkeit und Abgeschlossenheit des Wahnes war diese
Versenkung die eines perfekten Monomanen, seine Arbeit war nicht Fleiß
mehr, sondern Fieber, Rausch, Traum und Ekstase. Ein Palliativmittel der
Bezauberung war sie, ein Schlafmittel, das ihn seinen Lebenshunger
vergessen lassen sollte. Er selbst, zum Genießer, zum Verschwender befähigt
wie keiner, hat zugestanden, daß diese fieberhafte Arbeit ihm nichts war als
ein Mittel zum Genuß. Denn ein so zügellos Begehrender konnte, wie die
Monomanen seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten, weil
er sie ersetzte. All die Aufpeitschungen des Lebensgefühls, Liebe, Ehrsucht,
Spiel, Reichtum, Reisen, Ruhm und Siege konnte er missen, weil er
siebenfaches Surrogat in seinem Schaffen fand. Die Sinne sind töricht wie
Kinder. Sie können das Echte vom Falschen, Trug von der Wirklichkeit nicht
unterscheiden. Sie wollen nur gefüttert sein, gleichviel mit Erlebnis oder
Traum. Und Balzac hat seine Sinne ein Leben lang betrogen, indem er ihnen
Genüsse vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte ihren Hunger mit dem
Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte. Sein Erlebnis war das
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131