Page - 21 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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schon geliebt, ehe er in ihre Augen gesehen, war damals schon geliebt von
ihm, als sie noch Unwirklichkeit war, wie die fille aux yeux d’or, wie die
Delphine und die Eugenie Grandet. Für den wahrhaften Schriftsteller ist jede
andere Leidenschaft als die des Schaffens, des Erträumens eine Abirrung.
„L’homme des lettres doit s’abstenir des femmes, elles font perdre son temps,
on doit se borner à leur écrire, cela forme le style“, sagte er zu Theophile
Gautier. Im Innersten liebte er auch nicht Frau von Hanska, sondern die Liebe
zu ihr, liebte nicht die Situationen, die ihm begegneten, sondern die er sich
erschuf, er fütterte den Hunger nach Wirklichkeit so lange mit Illusionen,
spielte so lange in Bildern und Kostümen, bis er, wie die Schauspieler in den
erregtesten Momenten, selbst an seine Leidenschaft glaubte. Unermüdlich hat
er dieser Leidenschaft des Schaffens gefrönt, den inneren
Verbrennungsprozeß so lange beschleunigt, bis die Flamme aufschlug und
nach außen brach, bis er zugrunde ging. Mit jedem neuen Buch schrumpfte,
wie die magische Elentiershaut seiner mystischen Novelle, bei jedem so
betätigten Wunsch sein Leben zusammen, und er unterlag seiner Monomanie
wie der Spieler den Karten, der Trinker den Weinen, der Haschischträumer
der verhängnisvollen Pfeife und der Wollüstling den Frauen. Er ging an der
überreichen Erfüllung seiner Wünsche zugrunde.
Es ist ein nur Selbstverständliches, daß ein dermaßen kolossalischer Wille,
der Träume so mit Blut und Lebendigkeit erfüllte, der sie so anspannte, bis
ihre Erregungen nicht minder stark waren wie die Phänomene der
Wirklichkeit, daß ein solch ungeheuer zauberkräftiger Wille in seiner eigenen
Magie das Geheimnis des Lebens sah und sich selbst zum Weltgesetz erhob.
Eine eigentliche Philosophie konnte der nicht haben, der nichts von sich
verriet, vielleicht nichts mehr war als ein Wandelhaftes, der keine Gestalt
hatte wie Proteus, weil er alle in sich verkörperte, der wie ein Derwisch, ein
flüchtiger Geist, in die Körper von tausend Gestalten unterschlüpfte und sich
verlor in den Irrgängen ihres Lebens, jetzt mit dem einen Optimist, jetzt
Altruist, jetzt Pessimist und Relativist, der alle Meinungen und Werte in sich
ein- und ausschalten konnte wie elektrische Ströme. Er gibt keinem unrecht
und gibt keinem recht. Balzac hat immer nur épousé les opinions des autres –
wir haben kein deutsches Wort für dieses spontane Aufnehmen einer Meinung
ohne dauernde Identifizierung –, er war eingefangen im Augenblick, in der
Brusthöhle seiner Menschen, trieb mit im Schwall ihrer Leidenschaften und
Laster. Wahrhaft und unabänderlich mußte ihm nur der ungeheure Wille sein,
dieses Zauberwort Sesam, das ihm, dem Fremden, die Felsen vor der
unbekannten Menschenbrust aufsprengte, ihn hinabführte in die finsteren
Abgründe ihres Gefühls und ihn von dort, beladen mit dem Edelsten ihres
Erlebens, wieder aufsteigen ließ. Er mußte mehr als ein anderer geneigt sein,
dem Willen eine über das Geistige ins Materielle hinüberwirkende Gewalt
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131