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wenn er einen jener flüchtigen Ausflüge in die Wirklichkeit unternahm, wenn
er ging, mit seinem Verleger zu kämpfen oder die Korrekturbogen in eine
Druckerei zu bringen, bei einem Freunde zu speisen, oder die Bric-à-brac-
Läden von Paris zu durchstöbern, war immer eher Bestätigung als
Informierung. Denn damals, als er zu schreiben begann, war schon auf
irgendeine geheimnisvolle Weise das Wissen des ganzen Lebens in ihn
eingedrungen, lag gesammelt und aufgespeichert, und es ist vielleicht mit der
fast mythischen Erscheinung Shakespeares das größte Rätsel der Weltliteratur,
wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen Berufsklassen,
Materien, Temperamenten und Phänomenen herbeigeholten Vorräte von
Kenntnissen in ihn eingewachsen sind. Drei, vier Jahre, Jünglingsjahre, war er
in Berufen gestanden, bei einem Advokaten als Schreiber, dann als Verleger,
als Student, aber in diesen paar Jahren muß er alles eingeschöpft haben, diese
ganz unerklärliche, unübersehbare Fülle von Tatsachen, die Kenntnis aller
Charaktere und Phänomene. Er muß unglaublich beobachtet haben in diesen
Jahren. Sein Blick muß ein furchtbar saugender gewesen sein, ein gieriger,
der alles, was ihm begegnete, vampirhaft nach innen riß, in ein Inneres, ein
Gedächtnis, wo nichts vergilbte, nichts zerrann, nichts sich mischte oder
verdarb, wo alles geordnet, gespart, getürmt lag, immer bereit und stets nach
seiner wesentlichen Seite hin gekehrt, alles federnd und aufspringend, sobald
er nur leise mit seinem Willen und Wunsche daran rührte. Alles hat Balzac
gewußt, die Prozesse, die Schlachten, die Börsenmanöver, die
Grundstückspekulationen, die Geheimnisse der Chemie, die Schliche der
Parfumeure, die Kunstgriffe der Künstler, die Diskussionen der Theologen,
den Betrieb der Zeitung, den Trug des Theaters und jener anderen Bühne, der
Politik. Er hat die Provinz gekannt, Paris und die Welt, er, der connaisseur en
flânerie, las wie in einem Buch in den krausen Zügen der Straßen, wußte bei
jedem Hause, wann es gebaut war und von wem und für wen, enträtselte die
Heraldik des Wappens über der Tür, eine ganze Epoche aus der Bauart und
wußte gleichzeitig den Preis der Mieten, bevölkerte jedes Stockwerk mit
Menschen, stellte Möbel in die Zimmer, füllte sie an mit einer Atmosphäre
von Glück und Unglück und ließ vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum
dritten Stockwerk das unsichtbare Netz des Schicksals sich spinnen. Er hat
eine enzyklopädische Kenntnis gehabt, wußte, wieviel ein Bild des Palma
Vecchio wert ist, wieviel ein Hektar Weideland kostet, was eine
Spitzenmasche, was ein Tilbury und ein Diener, er hat das Leben der Elegants
gekannt, die, zwischen Schulden vegetierend, in einem Jahr zwanzigtausend
Francs anbringen; und schlägt man zwei Seiten weiter, so ist es wieder die
Existenz eines armseligen Rentiers, in dessen peinlich ausgetüfteltem Leben
ein zerrissener Schirm, eine zerbrochene Fensterscheibe zur Katastrophe
wird. Wieder ein paar Seiten, und nun ist er unter den ganz Armen, er geht
ihnen nach, wie jeder seine paar Sous verdient, der arme Auvergnate, der
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131