Page - 30 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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tausend anderen Gestalten dieses Unerschöpflichen. Heute sind schon
Millionen Bücher von Dickens im Umlauf, große, kleine, dicke und dünne
Bände, billige Ausgaben für die Armen und die teuerste Ausgabe drüben in
Amerika, die je von einem Dichter veranstaltet worden ist
(dreimalhunderttausend Mark, glaube ich, kostet sie: diese Ausgabe für
Milliardäre), aber in all den Büchern nistet heute wie damals noch immer das
selige Lachen, um aufzuflattern wie ein zwitschernder Vogel, sobald man die
ersten Blätter gewendet hat. Beispiellos ist die Beliebtheit dieses Autors
gewesen: wenn sie sich im Laufe der Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil
die Leidenschaft keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens sich
entschloß, öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal seinem Publikum Auge in
Auge entgegentrat, war England im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte
sie voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen
unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. In
Amerika schliefen die Leute bei bitterster Winterkälte auf mitgebrachten
Matratzen vor den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den
benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam. Alle Säle
wurden zu klein, und man räumte schließlich dem Dichter in Brooklyn eine
Kirche ein als Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver Twists
und die Geschichte der kleinen Nell. Launenlos war dieser Ruhm, er drängte
Walter Scott zur Seite, überschattete ein Leben lang das Genie Thackerays;
und als die Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es wie ein Riß durch die
ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten es Fremde einander,
Bestürzung verstörte London wie nach einer verlorenen Schlacht. Zwischen
Shakespeare und Fielding bettete man ihn, in Westminster Abbey, dem
Pantheon Englands; Tausende strömten hinzu, und tagelang war die schlichte
Gedenkstätte überflutet von Blumen und Kränzen. Und noch heute, nach
vierzig Jahren, kann man selten vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer
Hand hingestreute Blüten zu finden: der Ruhm und die Liebe ist nicht gewelkt
in all den Jahren. Heute wie damals in jener Stunde, da England dem
Ahnungslosen, dem Namenlosen das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in
die Hand drückte, ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste und
gefeierteste Erzähler der ganzen englischen Welt.
Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe
dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene
Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit
werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner
Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander
wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es
als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet,
daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131