Page - 32 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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überschritten. Er war kein Revolutionär. Der Künstler in ihm vertrug sich mit
dem Engländer, löste sich allmählich ganz in ihm auf. Was Dickens
geschaffen hat, steht fest und sicher auf dem jahrhundertalten Fundament der
englischen Tradition, beugt sich nie oder nur selten um Haaresbreite über sie
hinaus, führt aber den Bau zu unverhoffter Höhe mit einer reizvollen
Architektonik empor. Sein Werk ist der unbewußte, Kunst gewordene Wille
seiner Nation: und wenn wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die
versäumten Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir
gleichzeitig immer mit England.
Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen Tradition
zwischen dem heroischen Jahrhundert Napoleons, der ruhmreichen
Vergangenheit, und dem Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn er
für uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das Gewaltige, zu
dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es nicht England, nicht die Rasse
selbst, die ihn gehemmt hat, sondern der unverschuldete Augenblick: das
viktorianische Zeitalter Englands. Auch Shakespeare war ja höchste
Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche: aber der
elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften, frischsinnlichen
England, das zum erstenmal die Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das
heiß und vibrierend war von überschäumender Kraft. Shakespeare war der
Sohn eines Jahrhunderts der Tat, des Willens, der Energie. Neue Horizonte
waren aufgetaucht, in Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der
Erbfeind zerschmettert, von Italien her flackte das Feuer der Renaissance
herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die
Welt wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die
Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des
bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften,
hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines prüden,
behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. Sein
Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht hungrig
war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur spielte mit den Segeln
seines Schiffes, trieb es nie fort von der englischen Küste zur gefährlichen
Schönheit des Unbekannten, hinein in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig
ist er immer in der Nähe des Heimischen, Gewohnten und Althergebrachten
geblieben: wie Shakespeare der Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des
satten England. 1812 ist er geboren. Gerade wie seine Augen um sich greifen
können, wird es dunkel in der Welt, die große Flamme verlischt, die das
morsche Gebälk der europäischen Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo
zerschellt die Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet und
sieht seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne Krone und Macht zugrunde
gehen. Das hat Dickens nicht mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die Flamme
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131