Page - 33 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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der Welt, den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen das andere
wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands hinein. Der Jüngling findet
keine Helden mehr, die Zeit der Heroen ist vorüber. Ein paar in England
wollen es freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt und Enthusiasmus die
Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der Welt den alten sausenden
Schwung geben, aber England will Ruhe und stößt sie von sich. Sie flüchten
der Romantik nach in ihre heimlichen Winkel, suchen aus armen Funken das
Feuer wieder zu entfachen, aber das Schicksal läßt sich nicht zwingen.
Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu
Missolunghi: die Zeit will keine Aventüren mehr. Aschfarben ist die Welt.
Behaglich verschmaust England die noch blutige Beute; der Bourgeois, der
Kaufmann, der Makler ist König und räkelt sich auf dem Thron wie auf einem
Faulbett. England verdaut. Eine Kunst, die damals gefallen konnte, mußte
digestiv sein, sie durfte nicht stören, nicht mit wilden Emotionen rütteln, nur
streicheln und krauen, sie durfte nur sentimental sein und nicht tragisch. Man
wollte nicht den Schauer, der die Brust wie ein Blitz spaltet, den Atem
zerschneidet, das Blut einfrieren läßt – zu gut kannte man das vom wirklichen
Leben, als die Gazetten aus Frankreich und Rußland kamen –, nur das
Gruseln wollte man, das Schnurren und Spielen, das unablässig den farbigen
Knäuel der Geschichten hin und her rollt. Kaminkunst wollten die Leute von
damals, Bücher, die sich behaglich, während der Sturm an den Pfosten rüttelt,
am Kamin lesen und die selbst so züngeln und knacken mit vielen kleinen
ungefährlichen Flammen, eine Kunst, die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine,
die es freudig und lodernd berauschen will. So ängstlich sind die Sieger von
vorgestern geworden – sie, die nur behalten möchten und bewahren, nichts
mehr wagen und wandeln –, daß sie Angst haben vor ihrem eigenen starken
Gefühl. In den Büchern wie im Leben wünschen sie nur wohltemperierte
Leidenschaften, keine Ekstasen, die aufstürmen, immer nur normale Gefühle,
die sittsam promenieren. Glück wird in England damals identisch mit
Beschaulichkeit, Ästhetik mit Sittsamkeit, und Sinnlichkeit wiederum mit
Prüderie, Nationalgefühl mit Loyalität, Liebe mit Ehe. Alle Lebenswerte
werden blutarm. England ist zufrieden und will keinen Wandel. Eine Kunst,
die eine so satte Nation anerkennen kann, muß darum selbst irgendwie
zufrieden sein, das Bestehende loben und nicht darüberhinaus wollen. Und
dieser Wille nach einer behaglichen, freundlichen, einer digestiven Kunst
findet sein Genie, wie einst das elisabethanische England seinen Shakespeare.
Dickens ist das Schöpfung gewordene künstlerische Bedürfnis des damaligen
England. Daß er im richtigen Augenblicke kam, schuf seinen Ruhm; daß er
von diesem Bedürfnis überwältigt wurde, ist seine Tragik. Seine Kunst ist
genährt von der hypokritischen Moral von der Behaglichkeit des satten
England: und stände nicht eine so außerordentliche dichterische Kraft hinter
seinem Werke, täuschte nicht sein glitzernder, goldfunkelnder Humor hinweg
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131