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über die innere Farblosigkeit der Gefühle, so hätte er nur Wert in jener
englischen Welt, wäre uns indifferent wie die Tausende von Romanen, die
jenseits des Ärmelkanals von fingerfertigen Leuten produziert werden. Erst
wenn man aus tiefster Seele die hypokritische Borniertheit der viktorianischen
Kultur haßt, kann man das Genie eines Menschen mit voller Bewunderung
ermessen, der uns diese widerliche Welt der satten Behäbigkeit als interessant
und fast liebenswert zu empfinden zwang, der die banalste Prosa des Lebens
zu Poesie erlöste.
Dickens hat selbst nie gegen dieses England angekämpft. Aber in der Tiefe
– unten im Unbewußten – war das Ringen des Künstlers in ihm mit dem
Engländer. Er ist ursprünglich stark und sicher ausgeschritten, nach und nach
aber in dem weichen, halb zähen, halb nachgiebigen Sand seiner Zeit müde
geworden und immer öfter und öfter schließlich in die alten, breitgestapften
Fußspuren der Tradition getreten. Dickens ist überwältigt worden von seiner
Zeit, und ich muß bei seinem Schicksal immer an das Abenteuer Gullivers bei
den Liliputanern denken. Während der Riese schläft, spannen ihn die Zwerge
mit tausenden kleinen Fäden an den Erdboden an, halten den Erwachenden so
fest und lassen ihn nicht früher frei, ehe er nicht kapituliert und geschworen
hat, die Gesetze des Landes nie zu verletzen. So hat die englische Tradition
Dickens im Schlaf seiner Unberühmtheit eingesponnen und festgehalten: sie
preßte ihn mit den Erfolgen an die englische Scholle, sie rissen ihn hinein in
den Ruhm und banden ihm damit die Hände. Er war nach einer langen trüben
Kindheit Stenograph im Parlament geworden und hatte einmal versucht,
kleine Skizzen zu schreiben, mehr eigentlich um sein Einkommen zu
vermehren als aus impulsivem dichterischen Bedürfnis. Der erste Versuch
gelang, die Zeitung verpflichtete ihn. Dann bat ihn ein Verleger um satirische
Glossen zu einem Klub, die gewissermaßen den Text zu Karikaturen aus der
englischen gentry bilden sollten. Dickens nahm an. Und es gelang, gelang
über alle Erwartung. Die ersten Hefte des „Pickwick-Klub“ waren ein Erfolg
ohne Beispiel; nach zwei Monaten war Boz ein nationaler Autor. Der Ruhm
schob ihn weiter, aus Pickwick wurde ein Roman. Es gelang wieder. Immer
dichter spannen sich die kleinen Netze, die geheimen Fesseln des nationalen
Ruhmes. Von einem Werke drängte ihn der Beifall zum andern, drängte ihn
immer mehr in die Windrichtung des zeitgenössischen Geschmackes hinein.
Und diese hunderttausend Netze, aus Beifall, baren Erfolgen und stolzem
Bewußtsein künstlerischen Wollens auf das verwirrendste gewoben, hielten
ihn nun fest an der englischen Erde, bis er kapitulierte, innerlich gelobte, die
ästhetischen und moralischen Gesetze seiner Heimat nie zu übertreten. Er
blieb in der Gewalt der englischen Tradition, des bürgerlichen Geschmackes,
ein moderner Gulliver unter den Liliputanern. Seine wundervolle Phantasie,
die wie ein Adler hätte hinschweben können über dieser engen Welt, verhakte
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131