Page - 35 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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sich in den Fußfesseln der Erfolge. Eine tiefinnerliche Zufriedenheit belastet
seinen künstlerischen Auftrieb. Dickens war zufrieden. Zufrieden mit der
Welt, mit England, mit seinen Zeitgenossen und sie mit ihm. Beide wollten
sie sich nicht anders, als sie waren. In ihm war nicht die zornige Liebe, die
züchtigen will, aufrütteln, anstacheln und erheben, der Urwille des großen
Künstlers, mit Gott zu rechten, seine Welt zu verwerfen und sie neu, nach
seinem eigenen Dünken zu erschaffen. Dickens war fromm, fürchtig; er hatte
für alles Bestehende eine wohlwollende Bewunderung, ein ewig kindliches,
spielfrohes Entzücken. Er war zufrieden. Er wollte nicht viel. Er war einmal
ein ganz armer, vom Schicksal vergessener, von der Welt verschüchterter
Knabe gewesen, dem erbärmliche Berufe die Jugend verzettelt hatten. Damals
hatte er bunte farbige Sehnsucht gehabt, aber alle hatten ihn zurückgestoßen
in eine lange und hartnäckig getragene Verschüchterung. Das brannte in ihm.
Seine Kindheit war das eigentlich dichterisch-tragische Erlebnis – hier war
der Same seines schöpferischen Wollens eingesenkt in das fruchtbare
Erdreich von schweigsamem Schmerz; und seine tiefste seelische Absicht
war, als ihm dann die Macht und Möglichkeit der Wirkung ins Weite wurde,
diese Kindheit zu rächen. Er wollte mit seinen Romanen allen armen,
verlassenen, vergessenen Kindern helfen, die so wie er einst Ungerechtigkeit
erlitten durch schlechte Lehrer, vernachlässigte Schulen, gleichgültige Eltern,
durch die lässige, lieblose, selbstsüchtige Art der meisten Menschen. Er
wollte ihnen die paar farbigen Blüten Kinderfreude retten, die in seiner
eigenen Brust verwelkt waren ohne den Tau der Güte. Später hatte ihm das
Leben dann alles gewährt, und er wußte es nicht mehr anzuklagen: aber die
Kindheit rief in ihm um Rache. Und die einzige moralische Absicht, der
innere Lebenswille seines Dichtens war, diesen Schwachen zu helfen: hier
wollte er die zeitgenössische Lebensordnung verbessern. Er verwarf sie nicht,
er bäumte sich nicht auf gegen die Normen des Staates, er droht nicht, reckt
nicht die zornige Faust gegen das ganze Geschlecht, gegen die Gesetzgeber,
die Bürger, gegen die Verlogenheit aller Konventionen, sondern deutet nur
hier und dort mit vorsichtigem Finger auf eine offene Wunde. England ist das
einzige Land Europas, das damals, um 1848, nicht revolutionierte; und so
wollte auch er nicht umstürzen und neu schaffen, nur korrigieren und
verbessern, wollte nur die Phänomene des sozialen Unrechts, dort wo ihr
Dorn zu spitz und schmerzhaft ins Fleisch drang, abschleifen und mildern,
doch nie die Wurzel, die innerste Ursache, aufgraben und zerstören. Als
echter Engländer wagt er sich nicht an die Fundamente der Moral, sie sind
dem Konservativen sakrosankt wie das gospel, das Evangelium. Und diese
Zufriedenheit, dieser Absud vom flauen Temperament seiner Epoche, ist so
charakteristisch für Dickens. Er wollte nicht viel vom Leben: und so seine
Helden. Ein Held bei Balzac ist gierig und herrschsüchtig, er verbrennt vor
ehrgeiziger Sehnsucht nach Macht. Nichts ist ihm genug, unersättlich sind sie
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131