Page - 36 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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alle, jeder ein Welteroberer, ein Umstürzler, ein Anarchist und ein Tyrann
zugleich. Sie haben ein napoleonisches Temperament. Auch die Helden
Dostojewskis sind feurig und ekstatisch, ihr Wille verwirft die Welt und greift
in herrlichster Ungenügsamkeit über das wirkliche Leben nach dem
wahren Leben; sie wollen nicht Bürger und Menschen sein, sondern in jedem
von ihnen funkelt durch alle Demut der gefährliche Stolz, ein Heiland zu
werden. Ein Held Balzacs will die Welt unterjochen, ein Held Dostojewskis
sie überwinden. Beide haben sie eine Anspannung über das Alltägliche
hinaus, eine Pfeilrichtung gegen das Unendliche. Die Menschen bei Dickens
sind alle bescheiden. Mein Gott, was wollen sie? Hundert Pfund im Jahr, eine
nette Frau, ein Dutzend Kinder, einen freundlich gedeckten Tisch für die
guten Freunde, ihr Cottagehaus bei London mit einem Blick von Grün vor
dem Fenster, mit einem kleinen Gärtchen und einer Handvoll Glück. Ihr Ideal
ist ein spießerisches, ein kleinbürgerliches: damit muß man sich bei Dickens
zurechtfinden. Alle seine Menschen wollen innerlich keinen Wandel der
Weltordnung, wollen weder Reichtum noch Armut, sondern dieses behagliche
Mittelmaß, das als Lebensmaxime so weise für den Krämer und Kärrner, so
gefährlich für den Künstler ist. Die Ideale Dickens’ haben abgefärbt von ihrer
armen Umwelt. Hinter dem Werke steht als der Schöpfer, der Bändiger des
Chaos, nicht ein zorniger Gott, gigantisch und übermenschlich, sondern ein
zufriedener Betrachter, ein loyaler Bürger. Das Bürgerliche ist die
Atmosphäre aller Romane von Dickens.
Seine große und unvergeßliche Tat war darum eigentlich nur: die Romantik
der Bourgeoisie zu entdecken, die Poesie des Prosaischen. Er hat als erster
den Alltag der unpoetischesten aller Nationen ins Dichterische umgebogen.
Er hat Sonne durch dieses stumpfe Grau leuchten lassen; und wer in England
einmal gesehen hat, wie strahlend der Goldglanz ist, den dort die erstarkende
Sonne aus dem trüben Knäuel des Nebels spinnt, der weiß, wie sehr
ein Dichter seine Nation beseligen mußte, der ihr künstlerisch diese Sekunde
der Erlösung aus dem bleiernen Hindämmern gegeben hat. Dickens ist dieser
goldene Reif um den englischen Alltag, der Heiligenschein der schlichten
Dinge und simpeln Menschen, die Idylle Englands. Er hat seine Helden, seine
Schicksale in den engen Straßen der Vorstädte gesucht, an denen die anderen
Dichter achtlos vorbeigingen. Die suchten ihre Helden unter den
Kronleuchtern der aristokratischen Salons, auf den Wegen in den Zauberwald
der fairy tales, sie forschten nach dem Entlegenen, Ungewöhnlichen und
Außerordentlichen. Ihnen war der Bürger die Substanz gewordene irdische
Schwerkraft, und sie wollten nur feurige, kostbare, in Ekstasen aufstrebende
Seelen, den lyrischen, den heroischen Menschen. Dickens schämte sich nicht,
den ganz einfachen Tagwerker zum Helden zu machen. Er war ein self-made-
man; er kam von unten und bewahrte diesem Milieu eine rührende Pietät. Er
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131