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hatte einen sehr merkwürdigen Enthusiasmus für das Banale, eine
Begeisterung für ganz wertlose altväterische Dinge, für den Kleinkram des
Lebens. Seine Bücher sind selbst so ein curiosity shop voll mit Gerümpel, das
jeder für wertlos gehalten hätte, ein Durcheinander von Seltsamkeiten und
schnurrigen Nichtigkeiten, die jahrzehntelang vergeblich auf den Liebhaber
gewartet hatten. Aber er nahm diese alten wertlosen, verstaubten Dinge,
putzte sie blank, fügte sie zusammen und stellte sie in die Sonne seiner
Heiterkeit. Und da fingen sie plötzlich an zu funkeln mit einem unerhörten
Glanz. So nahm er die vielen kleinen verachteten Gefühle aus der Brust
einfacher Menschen, horchte sie ab, fügte ihr Räderwerk zusammen, bis sie
wieder lebendig tickten. Plötzlich begannen sie da wie kleine Spieluhren zu
surren, zu schnurren und dann zu singen, eine leise altväterische Melodie, die
lieblicher war als die schwermütigen Balladen der Ritter aus Legendenland
und die Kanzonen der Lady vom See. Die ganze bürgerliche Welt hat Dickens
so aus dem Aschenhaufen der Vergessenheit aufgestöbert und wieder blank
zusammengefügt: in seinem Werk erst wurde sie wieder eine lebendige Welt.
Ihre Torheiten und Beschränktheiten hat er durch Nachsicht begreiflich, ihre
Schönheiten durch Liebe sinnfällig gemacht, ihren Aberglauben verwandelt in
eine neue und sehr dichterische Mythologie. Das Zirpen des Heimchens am
Herd ist Musik geworden in seiner Novelle, die Silvesterglocken sprechen mit
menschlichen Zungen, der Zauber der Weihnacht versöhnt Dichtung dem
religiösen Gefühl. Aus den kleinsten Festen hat er einen tieferen Sinn geholt;
er hat allen diesen schlichten Leuten die Poesie ihres täglichen Lebens
entdecken geholfen, ihnen noch lieber gemacht, was ihnen schon das Liebste
war, ihr „home“, das enge Zimmer, wo der Kamin mit roten Flammen prasselt
und das dürre Holz zerknackt, wo der Tee am Tische surrt und singt, wo die
wunschlosen Existenzen sich absperren von den gierigen Stürmen, den wilden
Verwegenheiten der Welt. Die Poesie des Alltäglichen wollte er alle die
lehren, die in den Alltag gebannt waren. Tausenden und Millionen hat er
gezeigt, wo das Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der Funke der
stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags lag, er hat sie gelehrt,
ihn aufflammen zu lassen zu heiter behaglicher Glut. Helfen wollte er den
Armen und den Kindern. Was über diesen Mittelstand des Lebens materiell
oder geistig hinausging, war ihm antipathisch; er liebte nur das Gewöhnliche,
das Durchschnittliche von ganzem Herzen. Den Reichen und den
Aristokraten, den Begünstigten des Lebens war er gram. Die sind fast immer
Schurken und Knauser in seinen Büchern, selten Porträts, fast immer
Karikaturen. Er mochte sie nicht. Zu oft hatte er als Kind dem Vater ins
Schuldgefängnis, in die Marshalsea, Briefe gebracht, die Pfändungen
gesehen, zu sehr die liebe Not des Geldes gekannt; jahraus, jahrein war er
in Hungerford Stairs ganz oben in einem kleinen, schmutzigen, sonnenlosen
Zimmer gesessen, hatte Schuhwichse in Tiegel eingestrichen und mit Fäden
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131