Page - 40 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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abgeschlossen ruhte, was ihm irgend einmal, gestern oder vor vielen Jahren
von der Außenwelt eingezahlt worden war: das Erhabenste wie das
Gleichgültigste, irgendein farbiges Schild über einem Kramladen in London,
das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit gesehen, oder ein Baum mit seinen
aufspringenden Blüten gerade drüben vor dem Fenster. Nichts ging diesem
Auge verloren, es war stärker als die Zeit; sparsam reihte es Eindruck an
Eindruck im Speicher des Gedächtnisses, bis der Dichter ihn zurückforderte.
Nichts rann in Vergessenheit, wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete,
blieb voll Duft und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte.
Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges. Mit seiner
stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der Kindheit; in „David
Copperfield“, dieser verkappten Autobiographie, sind Erinnerungen des
zweijährigen Kindes an die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe
wie Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten. Es gibt
keine vagen Konturen bei Dickens; er gibt nicht vieldeutige Möglichkeiten
der Vision, sondern zwingt zur Deutlichkeit. Seine darstellende Kraft läßt der
Phantasie des Lesers keinen freien Willen, er vergewaltigt sie (weshalb er
auch der ideale Dichter einer phantasielosen Nation wurde). Stellt zwanzig
Zeichner vor seine Bücher und verlangt die Bilder Copperfields und
Pickwicks: die Blätter werden sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher
Ähnlichkeit den feisten Herrn mit der weißen Weste und den freundlichen
Augen hinter den Brillengläsern oder den hübschen blonden, ängstlichen
Knaben auf der Postkutsche nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so
scharf, so minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen muß; er
hatte nicht den magischen Blick Balzacs, der die Menschen der feurigen
Wolke ihrer Leidenschaften sich erst chaotisch formend entringen läßt,
sondern einen ganz irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen
Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten, sagte er
einmal, sind es, die den Sinn des Lebens ausmachen. Sein Blick hascht nach
kleinen Merkzeichen, er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen hilflosen
Gesten der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die unter einer
dunkeln Perücke hervorlugt, wenn ihr Eigner in Zorn gerät. Er spürt die
Nuancen, tastet die Bewegung jedes einzelnen Fingers bei einem Händedruck
ab, die Abschattung in einem Lächeln. Er war Jahre vor seiner literarischen
Zeit Stenograph im Parlament gewesen und hatte sich dort geübt, das
Ausführliche ins Summarische zu drängen, mit einem Strich ein Wort, mit
kurzem Schnörkel einen Satz darzustellen. Und so hat er später dichterisch
eine Art Kurzschrift des Wirklichen geübt, das kleine Zeichen hingestellt statt
der Beschreibung, eine Essenz der Beobachtung aus den bunten
Tatsächlichkeiten destilliert. Für diese kleinen Äußerlichkeiten hatte er eine
unheimliche Scharfsichtigkeit, sein Blick übersah nichts, faßte wie ein guter
Verschluß am photographischen Apparat das Hundertstel einer Sekunde in
40
Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Title
- Drei Meister
- Subtitle
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1920
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 134
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131